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Nationalerziehung und Universalmethode: Globale Diffusionsdynamik und kulturspezifische Aneignungsformen der Bell-Lancaster-Methode im 19. Jahrhundert

Fachliche Zuordnung Allgemeine und Historische Erziehungswissenschaft
Förderung Förderung von 2003 bis 2010
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 5412159
 
Erstellungsjahr 2009

Zusammenfassung der Projektergebnisse

In der Konsolidierungsphase neuzeitlicher Schulsysteme im 19. Jahrhundert entstand mit dem nach seinen englischen „Erfindern" benannten Bell-Lancaster-System eine viel versprechende Organisationsform des Elementarschulunterrichts, die eine bis dahin beispielslose Globalisierung erfuhr. Das Bell-Lancaster-System wurde u.a. deswegen weithin als besonders attraktiv empfunden, weil es die Unterweisung einer nahezu beliebig großen Schülergruppe in einem Raum und durch nur einen einzigen Lehrer ermöglichte. Dies wurde dadurch erreicht, dass die leistungsstärkeren Schüler systematisch als Helfer des Lehrers herangezogen wurden und im Rahmen eines ausgeklügelten unterrichtstechnischen Arrangements wechselnde Lerngruppen unterrichteten. Das Projekt konzentrierte sich auf die grenzüberschreitende Dynamik der Diffusion dieses Systems auf der einen - insbesondere auf die Rolle von international tätigen bzw. vernetzten Schul gesell Schäften - und auf seine kulturspezifische Rezeption in vier geographisch und sozial-kulturell sehr unterschiedlichen Vergleichsfällen auf der anderen Seite: „zentrale" bzw. „semi-periphere" Regionen in Westeuropa (Schleswig, Holstein und Preußen einerseits, Spanien anderseits) sowie „periphere" Gesellschaften außerhalb Europas frühkolonialen bzw. postkolonialen Zuschnitts (Indien und Argentinien). Innerhalb dieses Rahmens wurden mit Hilfe der im Bereich der bildungshistorischen Globalisierungsforschung noch relativ neuen sozialen Netzwerkanalyse unterschiedliche Akteure und Formen dieses Diffusions- und Rezeptionsprozesses untersucht. So wurden die internationalen Verbindungen, die die beiden aus Beils und Lancasters Arbeit hervorgegangenen und von England aus tätigen Schulgesellschaften (BFSS und National Society) über einen Zeitraum von fünfzig Jahren in die alle Welt unterhielten, in ihrer Dichte und Vielfalt systematisch analysiert. Denn aufgrund ihrer regen Kontakte in alle Welt, durch die Ausbildung von Lehrern sowie durch die Versendung von Handbüchern zum System und Schulmaterialien trugen die BFSS und die National Society maßgeblich zur weltweiten Verbreitung des Bell-Lancaster-Systems bei. Auch die Aktivitäten einer Vielzahl weiterer, außerhalb Englands gegründeter nicht-staatlicher Organisationen, die sich wie die BFSS und die National Society ebenfalls der Verbreitung des Bell-Lancaster-Systems verpflichtet sahen, trugen maßgeblich zu dessen rascher Dissemination bei. Im Zuge dieser und weiterer Teilanalysen entstand das Bild eines komplexen Diffusionsprozesses, der von zahlreichen Rückkopplungseffekten zwischen den verschiedenen Diffusions- und Rezeptionskontexten des Bell-Lancaster-Systems gekennzeichnet war, die entgegen landläufiger Annahmen nicht nur vom „Zentrum" in die „Peripherie", sondern durchaus auch von der „Peripherie" ins „Zentrum" verliefen. In diesem Kontext erfolgte auch die zunächst nicht erwartete fortlaufende Weiterentwicklung des Bell-Lancaster-Systems. Darüber hinaus verdeutlichen die vier Rezeptionsstudien, dass die Deutungen, die das Bell-Lancaster-System in unterschiedlichen Rezeptionskontexten jeweils erfuhr, nicht nur in kultureller, politischer und pädagogischer Hinsicht stark variierten, sondern auch in den traditionellen Kategorien des „Lokalen" bzw. „Nationalen" nicht hinreichend erfasst werden können. Vielmehr werden die kontextspezifischen Variationen des Bell-Lancaster-Systems erst im Rahmen transnational (Spanien und deutsche Staaten) bzw. transkontinental gefasster Interaktionsfelder (Indien und Argentinien) erklärbar. Somit stellt, kurz gesagt, die globale Diffusion des Bell-Lancaster- Systems ein frühes und besonderes eindrucksvolles Beispiel der von der internationalen Soziologie postulierten Gegenläufigkeit von Globalisierungstendenzen auf der einen und den eigen-evolutiven Konditionierungspotentialen von Ländern, regionalen „Kulturen" oder „Sinnkontexten" auf der anderen Seite dar.

 
 

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