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Zwischen Reflexion und Projektion: „Zigeunerkunde“ im Donau-Karpatenraum (1880-1930)
Antragsteller
Professor Dr. Thomas Bohn
Fachliche Zuordnung
Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung
Förderung seit 2024
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 463005852
Die im Kontext von Imperialismus und Kolonialismus situierte "Zigeunerkunde" des Habsburgerreichs unterliegt einem Spannungsverhältnis von Projektion und Kulturtransfer. Sie hatte es im Wesentlichen mit dem Banat und Siebenbürgen sowie mit der Walachei und der Moldau zu tun, mit Gebieten die zum heutigen Rumänien gehören und damals als "Heimat der Zigeuner" galten. Aus Sicht der heutigen Antiziganismusforschung waren die ethnologischen Beschreibungen der habsburgischen Privatgelehrten und Verwaltungsfachleute problematisch. Bei den Darstellungen vom "fahrenden Volk" handelte es sich um Projektionen von Eliten einer multikulturellen Gesellschaft im imperialen Zusammenhang. In allen Alteritätsdiskursen ging es um eine Polarisierung zwischen Fortschritt und Zivilisation auf der einen und Rückständigkeit und Wildnis auf der anderen Seite. Zu den sogenannten "Zigeunerfreunden" zählten Erzherzog Joseph Karl Ludwig von Österreich (1833-1905), der Hochschullehrer Anton Herrmann (1851-1926) und der Autodidakt Heinrich von Wlislocki (1856-1907). Deren Publikationen beeinflussten noch den deutsche Ethnologen Martin Block (1891-1972). Im Hinblick auf die Biographien und akademischen Lebensläufe der habsburgischen "Zigeunerfreunde" stellt die Frage, warum sich vor allem Autoren aus dem Milieu der deutschsprachigen Minderheiten zu diesem Thema äußerten. Weshalb beinhalteten die gelehrten Reflexionen über sogenannt Zigeuner nur das Exotische, nicht aber die Assimilation an sozioökonomische Milieus und konfessionelle Gemeinschaften sowie die Integration in Untertanenverbände und Verwaltungsstrukturen? Während der Teilprojektleiter zur Beantwortung dieser Fragen eine konzise Synthese in Aufsatzform anstrebt, wird der Projektbearbeiter eine wissenschaftliche Biographie des siebenbürgischen Volkskundlers Heinrich von Wlislockis vorlegen. Dessen umfangreiches publizistisches Wirken ist im Kontext der Nationalitätenpolitik der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn zu verorten, die von der Magyarisierung gekennzeichnet war. Bisher sind an die 200 Veröffentlichungen von Wlislockis nachgewiesen. 1883 begleitete der promovierte Philologe die sogenannten "Wanderzigeuner" mehrere Monate als teilnehmender Beobachter durch Siebenbürgen und die südöstlichen Teile Ungarns. Über die Fokussierung auf von Wlislocki soll der Prozess von der Wissensgenese (Feldforschung) über die Narrativierung des Wissens (Dokumentation) bis zur Zirkulation dieses Wissens in der und über die Gesellschaft (Diskurse) erforscht werden. Im Hinblick auf die Stereotypenbildung, die für die Forschungsgruppe ein zentrales Problem darstellt, ist neben der Ethnizität auch die Landschaft von Relevanz. Unter dieser Prämisse können im Interesse der Forschungsgruppe fiktionale Projektionsflächen von "Zigeuner"-Darstellungen mit historischen Schauplätzen oder realen Lebenswelten im Südosten Europas kontrastiert werden.
DFG-Verfahren
Forschungsgruppen