Bruchlinien und Kontinuitäten. Die Donaueschinger Musikfeste von 1921 bis 1950
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Mit dem weit gefassten Forschungsvorhaben, die Aktivitäten der Institution „Donaueschingen“ erstmals in all ihren Facetten von der Gründung 1921 bis zur Übernahme durch den Südwestfunk 1950 zu verfolgen, zu dokumentieren und zu kommentieren, kann nicht nur das immer noch sehr bruchstückhafte Bild von der langlebigsten und wohl erfolgreichsten Institution zur Förderung „Neuer Musik“ um wesentliche Aspekte ergänzt werden, sondern auch ein wichtiger Beitrag zur Beschreibung und Bewertung der Musikgeschichte der Zwischenkriegszeit geleistet werden. In dem Projekt wurde die einzigartige Chance ergriffen, über den kulturgeschichtlich außerordentlich wechselvollen Zeitraum Entwicklungslinien zu verfolgen, die nicht zuletzt aufgrund der sichtbaren personellen Kontinuitäten zu erwarten waren, von den Brüchen in den politischen Rahmenbedingungen jedoch überschattet und verdeckt werden. Grundvoraussetzung war die möglichst vollständige Bestimmung der Programmpunkte und eine umfassende Ermittlung und Auswertung der Dokumente aus dem Umfeld der Juryarbeit und zur Rezeption, von denen ein wesentlicher Teil durch das bereits seit längerer Zeit freigeschaltete Online-Portal erschlossen wird. „Bruchlinien und Kontinuitäten“ waren in der Geschichte „Donaueschingens“ zu erwarten gewesen; allerdings traten sie, wie aus folgenden Punkten hervorgeht, an Stellen auf, an denen man sie zunächst nicht vermutet hatte: 1. Revision der Leitideen: Die Arbeit an dem außerordentlich umfangreichen Archivmaterial ermöglichte eine deutliche Präzisierung der Donaueschinger Entscheidungsprozesse und führte zu einer Neubewertung der über die Jahre wechselnden Veranstaltungskonzepte, wobei insbesondere die Beschäftigung mit der Rezeptionsgeschichte überraschende Einsichten eröffnete. So ist die bis heute primär wahrgenommene Rolle Donaueschingens als Podium für die Entdeckung verheißungsvoller Nachwuchstalente deutlich zu relativieren, da diese anfangs sehr erfolgreich umgesetzte Leitidee bereits nach einem krisenbehafteten 3. Musikfest mangels einer ausreichenden Zahl interessanter Neuentdeckungen aufgegeben werden musste. 2. Donaueschinger Schwerpunktthemen – Bruchlinie: Mit dem 1924 angekündigten und ab 1925 von Hindemith zunehmend konsequent durchgeführten Konzept, den Veranstaltungen mit Schwerpunktthemen, die aktuell „in der Luft“ lagen, neuen Sinn und Gehalt zu geben, brach man mit der ursprünglichen Donaueschinger Idee, verheißungsvolle Nachwuchstalente und damit Künstlerpersönlichkeiten zu fördern, und bewegte sich hin zu einer Art Labor, in dem man sich gemeinschaftlich experimentierend mit aktuellen, meist soziologisch begründeten Problemstellungen beschäftigte. 3. Zeitgemäße Musik für Gebrauch und Gemeinschaft: Hiermit betrat man einen Bereich, der nach dem Zweiten Weltkrieg fast völlig aus dem Blick der Musikhistoriographie geraten ist: die unterschiedlichen Ausprägungen der sog. Gebrauchs- und der Gemeinschaftsmusik, die in dieser Phase tatsächlich als die „neue“ bzw. zeitgemäße Musik angesehen wurde. Die Auswertung der kaum zu überschauenden Diskussionen, die in der Fachpresse überliefert sind, machte deutlich, dass man sich bei den Veranstaltungen in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre mit avancierten Beiträgen zu neuen Musikinstrumenten und den aufkommenden Massenmedien (Film, Rundfunk), zur pädagogischen und zur Laienmusik (teils gemeinsam mit der Musikantengilde) tatsächlich an vorderster Front der aktuellen Diskussionen bewegte und diese wesentlich mitbestimmte. 4. Gebrauchsmusik und Politik – Kontinuitäten: Dass die teils dem „linken“ Lager der Weimarer Republik entwachsenen Konzepte der Gebrauchs- und Gemeinschaftsmusik bruchlos fortentwickelt werden konnten für eine Anwendung unter gewendeten politischen Verhältnissen, zeigen die Programme der Veranstaltungen, die Hugo Herrmann in dezidierter Anknüpfung an „Donaueschingen“ in den 30er-Jahren verantwortete. 5. Stilfragen – Lineare Polyphonie: Zwischen dem vielfältigen Donaueschinger Themenfeldern konnten mehrfach überraschende inhaltliche Vernetzungen und Verbindungslinien aufgedeckt werden. Unter diesen dürfte die allseits diskutierte und bislang kaum untersuchte stilistische Neuorientierung an linear-polyphonen Satzbildern in unterschiedlichsten Kontexten (Kammermusik, Rundfunkmusik, Gemeinschaftsmusik etc.) wohl die interessanteste sein, auch weil sie in zeitgenössischen Schriften intensiv diskutiert wurde. 6. Forschungsfelder: Aus den angedeuteten Aspekten wird deutlich, dass „Donaueschingen“ einen einzigartigen Kristallisationspunkt für die Musikkultur der Zwischenkriegszeit in all seinen Facetten bildete. Durch die umfassende Sichtung der Donaueschinger Aktivitäten wurde erstmals deutlich, wie vielfältig sich die Anknüpfungspunkte für weiterführende Forschungsvorhaben gestalten und wo diese liegen. Sie öffnen Forschungsfelder u.a. in Bereiche der neue Medien und Technologien, der Musikpädagogik, der Soziologie, des Feldes Musik und Politik, der Musikästhetik und Kompositionsgeschichte. Eine umfangreichere Monographie zum Themenkomplex „Donaueschingen“ ist momentan in Arbeit. Ein ausführlicher Überblick über die ideelle und konzeptionelle Entwicklung der Institution „Donaueschingen“ wird in dem Aufsatz „,Mythos Donaueschingen‘. Zur Rolle einer Idee im Wandel von Festspielkonzeptionen 1921 bis 1950“ gegeben.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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„Mythos Donaueschingen“. Zur Rolle einer Idee im Wandel von Festspielkonzeptionen 1921 bis 1950, in: Colloquium Collegarum. Festschrift für David Hiley zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Wolfgang Horn u. Fabian Weber (Regensburger Studien zur Musikgeschichte, Bd. 10), Tutzing 2013, S. 303–336
Michael Wackerbauer