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„Russen aller Reichsränder, vereinigt Euch!“* Russische Grenzlandnationalisten im späten Zarenreich (1905-1914) * „Russkie ljudi vsech okrain, soedinjajtes‘!“ in: Okrainy Rossii (1. Sept. 1907), S. 1.
Antragsteller
Professor Dr. Malte Rolf
Fachliche Zuordnung
Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung
Förderung seit 2020
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 435681695
Seit der Revolution von 1905 erstarkte der russische Nationalismus als politische Kraft im Zarenreich. Zugleich gewannen Repräsentanten der okrainy, der Grenzgebiete des Russischen Reichs, zunehmend an Einfluss in den nationalistischen Kreisen in St. Petersburg. Unter anderem stellten sie einen überproportionalen Anteil der Abgeordneten rechter Parteien in der Staatsduma. Obwohl erste Lokalstudien zu diesen Grenzlandnationalisten vorliegen, ist eine Analyse ihrer Bedeutung für den hauptstädtischen politischen Betrieb in Russland vor 1914 ein Forschungsdesiderat.Das Projekt nimmt daher die politische (Selbst-)Mobilisierung russischer Nationalisten aus den imperialen Randgebieten in den Blick. Es zielt darauf ab, den Aufstieg von Grenzlandnationalisten in den russischen Lokalgesellschaften nachzuvollziehen, ihre Strategien zur translokalen Vernetzung zu analysieren und ihren Einfluss in den politischen Foren in Petersburg zu bestimmen.Mit diesem Fokus beabsichtigt das Projekt, den Wandel des politischen Gefüges im Zarenreich in vier Dimensionen neu zu beschreiben. Erstens werden die Akteure lokaler Politisierung und ihre integral-nationalistischen Identitätsentwürfe beleuchtet. Anhand der Fallbeispiele Warschau und Chișinău werden Praktiken nationalistischer Gemeinschaftsbildung vor Ort identifiziert sowie ihre zentralen Protagonisten profiliert.Zweitens geht das Projekt den Formen translokaler politischer Vernetzung und der Interessensvertretung in Entscheidungsgremien des imperialen Zentrums nach. Es gilt zu untersuchen, wie die Wortführer aus der Peripherie eine größere Grenzland-community herstellten, okraina-Themen zum Gegenstand hauptstädtischer Debatten machten und das Regierungshandeln beeinflussten.Drittens wird das Vorhaben nachvollziehen, wie es den Grenzlandaktivisten gelang, die sich im engeren Sinne als „rechts“ verstehenden Institutionen und Meinungsforen in Petersburg zu dominieren. Denn ihre letztliche Hegemonie war noch 1905 keinesfalls ausgemacht: Der Aufstieg von okraina-Aktivsten in diesem heterogenen Milieu ist als spannungsreicher Prozess einer „Provinzialisierung“ zu beschreiben.Viertens wirft das Projekt ein Schlaglicht auf die nationalistischen Reichsbilder und Semantiken, die den politischen Diskurs im späten Zarenreich insgesamt prägten. Wie gelang es den Grenzlandnationalisten zum Beispiel, eine Vorstellung der Peripherien als okraina im Kollektivsingular zu popularisieren und Begriffe wie „die russische Sache“ inhaltlich zu überformen und zu monopolisieren?Ein solch mehrschichtiger Zugang erlaubt es, die Bedeutung von okraina-Debatten im Kontext einer zunehmenden Nationalisierung des Imperiums nach 1905 neu zu bestimmen. Die Analyse von Radikalisierungsdynamiken an den Reichsrändern sowie deren Auswirkungen auf hauptstädtische politische Foren versprechen zudem, grundsätzliche Anregungen zum Verständnis von Zentrums-Peripherie-Beziehungen in komplexen Gefügen von Kolonial- und Großreichen zu geben.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen