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Fotografie als Instrument, Methode und Erkenntnisform soziologischer Forschung bei Pierre Bourdieu
Antragsteller
Professor Dr. Franz Schultheis
Fachliche Zuordnung
Empirische Sozialforschung
Förderung
Förderung von 2019 bis 2022
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 432887028
In einem Essay aus dem Jahre 1974 schreibt Howard Becker: „Sociologists today know little of the work of social documentary photographers and its relevance to what they do. They seldom use photographs as a way of gathering, recording or presenting data and conclusions.” Becker konnte nicht wissen, dass Pierre Bourdieu genau dies bereits Ende der 1950er-Jahre systematisch praktizierte. Während seiner algerischen Feldforschungen produziert Bourdieu einige tausend fotografische Dokumente, die er über viele Jahrzehnte als eine Quelle seiner Studien nutzen sollte. Fotografie diente ihm sowohl als Instrument, Methode und Erkenntnismittel seines Forschens und wurde dann zum Ausgangspunkt einer sukzessiven Ausweitung seiner „visuellen Soziologie” auf den Bereich der Forschung „über” Fotografie in seiner bekannten Studie Eine illegitime Kunst bis hin zum ausgiebigen und systematischen Einsatz visueller Dokumente in seiner Revue Actes de la Recherche en Sciences Sociales oder Werken wie Die feinen Unterschiede. Bourdieu bedient sich im Laufe seiner Karriere eines Rückgriffs „auf visuelle Aussageformationen“, der in seiner Breite und Vielfalt in der Soziologie einzigartig sein dürfte. Er nutzt die Fotografie systematisch als Teil seiner Forschungskonzepte zur Beobachtung, Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Phänomene und setzt sie konsequent als Instrumente wissenschaftlicher Forschung ein. Dadurch erweitert er das Forschungs- und Methodenrepertoire der Sozialwissenschaften um originär empirisch-fotografische Bildpraktiken. Umso mehr überrascht es, dass diese visuelle Komponente des Bourdieuschen Werks bis heute noch nicht angemessen gewürdigt wurde. Hauptgrund für dieses Manko dürfte sein, dass bisher nur ein Bruchteil des Bourdieuschen Fotoarchivs öffentlich zugänglich ist und dessen wissenschaftliche Sichtung inklusive einer inhaltlichen Aufbereitung und Veröffentlichung noch aussteht.Aus unserer Sicht wäre die Schließung dieser Lücke einerseits von großem Interesse für ein adäquate Rezeption der Bourdieuschen Forschungspraxis und Theoriebildung: Insofern die Fotografie ihm als wesentlicher Zugang zu einer Objektivierung sozialer Wirklichkeit diente, eröffnet sich hier die Möglichkeit, die für sein Werk kennzeichnende intensive Verschränkung visueller und diskursiver Zugänge im Detail zu rekonstruieren. Von besonderem Interesse wäre hier, den Anteil der visuellen Soziologie Bourdieus an der Ausarbeitung zentraler Konzepte wie „Habitus“, „symbolisches Kapital“ oder „symbolische Gewalt“ zu rekonstruieren.Andererseits könnte eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit der visuellen Soziologie Bourdieus dazu dienen, den Gebrauch der Fotografie in der sozialwissenschaftlichen Praxis neu zu beleben. Bourdieus fotografisches Werk böte das erforderliche Potential an empirischer Fundierung, methodischer Stringenz und gesellschaftstheoretischer Reflexivität, um dies auf exemplarische Weise zu leisten.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen