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Unterm Radar des Gesetzes. Außergerichtliches, administratives Strafsystem zur Verurteilung sozialer und politischer Abweichung in der Sowjetunion, 1917-1953
Antragsteller
Privatdozent Dr. Marc Junge
Fachliche Zuordnung
Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung
Förderung seit 2018
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 401774175
Ziel ist zu zeigen, dass die Bolschewiki direkt nach ihrer Machtübernahme nach neuen Formen von Sozialdisziplinierung und Sozialverteidigung (Défense Sociale) jenseits von Gesetz, Prozessen, Urteilen und Strafe gesucht haben. Dies manifestiert sich in ihrer frühen systematischen Ausrichtung auf Milieu- und Strukturbekämpfung von potentiellem politischen Widerstand und sozial abweichender Bevölkerungsteile unterhalb des Radars des Gesetzes: Schon 1922 wurde mit der Sonderversammlung (Osoboe soveshchanie) ein neues außergerichtliches, administratives staatliches Organ geschaffen. Dieses Gremium diente nicht dazu, die Gesetzeskodizes des sozialistischen Staates zu ergänzen und zu flankieren oder auf gleicher Ebene zu umschiffen. Es war vielmehr ein Instrument, um unterhalb des Radars des Gesetzes zu operieren, also in einer Sphäre, die das Strafrecht nicht abgedeckte. Daraus entwickelte sich ein typisch sowjetisches, breit gefächertes Sonderjustizsystem: Mit Beginn der Kollektivierung und dann wieder mit dem Beginn des Großen Terrors wurden andere Spezialgremien mit erweiterten oder eingeschränkten Machtbefugnissen um die Sonderversammlung herum gruppiert, abhängig von den Bedürfnissen, der Situation oder der Politik: Die verschiedenen Trojkas der Jahre 1929-1936, dann die sog. Kulaken-Trojkas (Befehl Nr. 00447), die Nationalen Trojkas, die Dvojkas der Jahre 1937-1938. Die Fokussierung auf Milieubekämpfung und strukturelle Kontrolle war - so die These - nicht zur Mäßigung der Macht oder zum Schutz oder Ergänzung der sozialistischen Rechtsordnung gedacht. Im Gegenteil ging es im Namen von Sozialverteidigung und Loyalitätserzeugung um einen systematischen Ausbau staatlicher Interventionsbefugnisse jenseits strafrechtlich relevanter Bereiche auf der Grundlage eines reinen Verwaltungsakts, der sich durch das Prinzip „im Zweifelsfalle gegen den Angeklagten“ auszeichnete. Ziel war es ein neues Instrumentarium zu schaffen, mit dem souveräne Macht über einen gesellschaftlichen Bereich aufgebaut werden sollte, der bisher noch niemals in dem Maße und in der Form staatlich organisiert durchdrungen wurde. Prophylaxe avancierte zum Machmittel. Es ging - so die Annahme - darum eine neue Straftechnologie auszuprobieren, die im Keim jegliche Tendenzen zur Etablierung von „Verrätern“ erstickt, die der Gesellschaft von innen heraus ihre Schläge versetzen (Foucault). Die Erzeugung von Loyalität, bis hin zu Kadavergehorsam, und nicht die Bekämpfung von Gesetzeswidrigkeit stand im Vordergrund. Die Entstehung, Entwicklung und Veränderung sowie die Struktur und Funktionsweise dieses außergerichtlichen, administrativen Systems von 1917 bis 1953 bildet den Kern des Forschungsprojekts. Am Ende des Projekts steht eine Monographie zur Geschichte der außergerichtlichen, administrativen, staatlichen Organe in der Sowjetunion von 1917-1953 in russischer und deutscher Sprache.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen