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Szenarien der Postsouveränität in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Antragsteller Dr. Matthias Schaffrick
Fachliche Zuordnung Germanistische Literatur- und Kulturwissenschaften (Neuere deutsche Literatur)
Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Förderung Förderung von 2017 bis 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 383473643
 
Erstellungsjahr 2022

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Der Ausgangspunkt für dieses Projekt war die Beobachtung, dass es unter den Romanen und Erzählungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine Reihe von Texten gibt, die sich inhaltlich mit den Folgen der Ereignisse des 11. Septembers 2001 befassen und durch Erzählverfahren hervorstechen, die das konventionell realistische Erzählen an die Grenzen der Erzählbarkeit führen. Der Untersuchungszeitraum reichte von Kathrin Rögglas „really ground zero“ aus dem Jahr 2001 bis zu Sibylle Bergs Roman „GRM. Brainfuck“ von 2019. Neben den Romanen und Erzählungen dieser beiden Autorinnen umfasst das Korpus Texte von Friedrich von Borries, Katharina Hacker, Thomas Lehr, Ulrich Peltzer und Marlene Streeruwitz. Das Ziel war es, zu untersuchen, wie die Destabilisierung der globalen politischen Ordnung in diesen Texten erzählerisch verhandelt wird. Darauf aufbauend werden in der Projektmonografie Formveränderungen politischer und ästhetischer Souveränität im Zeichen von Terrorismus, Neuen Kriegen und geopolitischer Globalisierung globalgeschichtlich und kulturtheoretisch reflektiert. Der Begriff ‚Postsouveränität‘ impliziert die Zerstreuung, das Schwinden oder die Verschiebung von Souveränität. Um diese Formveränderungen systematisch zu erfassen, differenzierte das Projekt zwischen fünf Dimensionen der Postsouveränität: Postsouveränität als narratologische Kategorie, als subjektphilosophisches Konzept, als Begriff der Geopolitik, als diskursgeschichtlicher Begriff sowie als Konzept der politischen Theorie. Im Zentrum standen die Erzählverfahren, mit denen die Romane und Erzählungen das Zerbrechen, die Störung oder den Zerfall der narrativen ebenso wie der politischen, sozialen und lebensweltlichen Ordnung zur Sprache bringen. Es konnte gezeigt werden, dass sich alle untersuchten Texte durch Abweichungen oder Ausnahmen von der konventionellen Prosaform narrativer Texte und ihrer Typografie auszeichnen. Auf der Ebene des discours gehören dazu die Überlagerung verschiedener Fokalisierungen, die Vermischung von Zeitperspektiven, unvermittelte Perspektivwechsel, Paralipsen oder der Einsatz unzurechnungsfähiger bzw. unzuverlässiger Erzählinstanzen. Aber nicht nur narrative Techniken der Kohärenzbildung werden in diesen Texten durchbrochen, sondern auch grammatische Ordnungen aufgelöst und Gattungsgrenzen überschritten. Nicht zuletzt machen die Texte den Souveränitätsmangel auf der Ebene der Medialität des Textes sichtbar durch den Verzicht auf Interpunktion, durch fragmentierte Absätze, durch die Unterbrechung des Prosatextes durch Verszeilen, durchgängige Kleinschreibung oder Verteilung von direkter Rede oder Fokalisierungen im dramatischen Modus. Die Verwandtschaft mit Verfahren der klassischen Moderne ist offensichtlich, jedoch stellen die literarischen Szenarien der Postsouveränität das Geschehen in einen konkreten globalgeschichtlichen Kontext der Auflösung politischer oder sozialer Orientierung. Als Ergebnis erarbeitete das Projekt einen Merkmalskatalog postsouveränen Erzählens. Zugleich konnte eine literaturgeschichtliche Positionierung des behandelten Textkorpus innerhalb der Gegenwartsliteratur vorgenommen werden. Die postsouveräne Literatur ist demnach zwischen der Popliteratur der 1990er und frühen 2000er Jahre (Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Rainald Goetz u.a.) und der postdigitalen Literatur der jüngsten Gegenwart (Joshua Groß, Juan S. Guse, Leif Randt u.a.) situiert. Damit brachte das Projekt ein Genre der Gegenwartsliteratur der Jahre zwischen 2001 und 2019 auf den Begriff. Die Publikationen neben der zentralen Monografie arbeiten die Konstellationen zwischen klassischer Moderne, Globalgeschichte und Gegenwartliteratur heraus, erschließen mit dem Spionageroman literaturgeschichtliche Genealogien des postsouveränen Erzählens und kontrastieren die Zäsur 9/11 mit der literarischen Verarbeitung der Ereignisse im „Deutschen Herbst“, wo sich ähnliche Topoi („nichts mehr wie vorher“), aber andere Erzählverfahren beobachten lassen. Eine Konferenz zu „Szenarien. Techniken und Praktiken der Realitätsverdopplung“, die im Rahmen dieses Projekts am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (Bielefeld) durchgeführt wurde, diente dazu, die vielfältigen Verwendungsweisen des Begriffs ‚Szenario‘ zu sortieren und zu reflektieren.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

 
 

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