Warschau unter russischer Herrschaft: Die imperiale Elite und ihre Repräsentationen im Königreich Polen (1863-1915)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Arbeit hat in mehrfacher Hinsicht den Forschungsstand erheblich erweitert und damit zum wissenschaftlichen Fortschritt beigetragen. Zum einen lag bisher keine detaillierte Studie zu den Strukturen imperialer Administration im Königreich Polen vor. Es war weitgehend unbekannt, nach welchen Kriterien in dieser für den Reichszusammenhang so zentralen Provinz imperiale Verwaltung praktiziert wurde. Indem die Studie die Tätigkeit der Generalgouverneure in den Blick nimmt, profiliert sie die zentralen Akteure in der zarischen Bürokratie und stößt damit auch eine Neubewertung imperialer Herrschaft im Russischen Reich und vor allem in seinen Randgebieten an. Darüber hinaus herrscht in der Forschung weiterhin das Paradigma eines unversöhnlichen polnisch-russischen Antagonismus vor. Die Arbeit verdeutlicht hier jedoch, wie ausgeprägt Zusammenarbeit und Interaktion zwischen zarischer Verwaltung und Vertretern der indigenen Bevölkerung in verschiedenen politischen und sozialen Feldern waren. Zugleich verweist sie erstmals detailliert auf die Friktionen, die zwischen einer sich nationalisierenden russischen Öffentlichkeit und einer sich supra-national verstehenden imperialen Beamtenschaft bestanden. Die zarische Bürokratie machte sich keinesfalls eindeutig zum Fürsprecher der „russischen Sache“, wie es die russischen Nationalisten forderten. Abschließend wird auch das Verhältnis von politischer Entscheidungsfindung und Praxis im Zentrum und an der Peripherie neu bewertet. Die Studie zeigt klar den großen Spielraum auf, den die regionalen Akteure hatten und den sie auch gegenüber den Zugriffsversuchen der Petersburger Premierminister, Minister und anderen Behördenleiter verteidigen konnten. Dieser Befund stellt zugleich die größte „Überraschung“ dar, die die Arbeit mit den Archivmaterialien bewirkt hat. Die Eigenlogiken von imperialer Herrschaft in den Reichsrandgebieten müssen daher in zukünftigen Forschungen stärker berücksichtigt werden, als es bisher getan worden ist. Dabei ist vor allem auf die Position der Generalgouverneure als starke Männer der lokalen Verwaltung einzugehen. Es sind ähnlich wie in dieser Studie ihre politischen Konzeptionen und Praktiken von imperialer Herrschaft herauszuarbeiten. Im Fall des Königreichs Polen bewirkte die imperiale Verwaltung durch ihre Sonderbehandlung (bzw. ihre spezifische Diskriminierung) der Provinz ungewollt, dass die indigene Bevölkerung permanent an die Andersartigkeit ihres Territoriums erinnert wurde. Gerade die Warschauer Generalgouverneure trugen in ihrem Anliegen, den Sonderstatus ihres Verwaltungsdistrikts und damit die herausgehobene Stellung ihres Amtes zu bewahren, erheblich dazu bei, dass „Polen“ von den Zeitgenossen weitgehend ungebrochen in Differenz zu „Russland“ gesehen wurde. Damit bewirkten sie indirekt, dass die von polnischer Seite artikulierten langfristigen Forderungen nach einer Abtrennung der Provinz über die langen Jahre Petersburger Herrschaft hinweg nie an Überzeugungskraft verloren.