Opferbeteiligungen an internationalen Strafverfahren. Partizipation und Anerkennung von Opfern an internationalen Strafgerichten
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Der IStGH soll eine konkrete Position in Bezug auf die Opfer einnehmen. Bisher konzentrierte sich die Praxis des Gerichtshofs nur auf die Opfer der spezifischen Anklagepunkte in den Verfahren gegen die einzelnen Angeklagten (victims of specific charges). Folglich führt dieser Ansatz zu – im Vergleich zum makrokriminellen Kontext – relativ wenigen Opfern, die die Möglichkeit haben, vor dem Gerichtshof als Opfer anerkannt zu werden. Diese Herangehensweise führte jedoch immer noch zu einer hohen Anzahl von Anträgen und einer Vielzahl von Anerkennungen von individuellen Opfern. Trotz der Anerkennung hat nicht jedes Opfer die Möglichkeit, seine Ansichten und Bedenken persönlich vor Gericht zu äußern. Angesichts dieses Befundes ist es unverständlich, warum sich nicht auch Opfer beteiligen können, die zwar nicht Opfer in Bezug auf einen bestimmten Anklagepunkt (charge) sind, aber sehr wohl Opfer der Situation oder zumindest mit dem Angeklagten in Verbindung gebracht werden können. Wenn die Anklagebehörde des IStGH nicht genügend Beweise für andere Täter sammeln konnte, warum sollten die Opfer dann einfach ausgeschlossen werden, weil andere in der Situation identifizierbare Täter aus irgendeinem Grund nicht vom IStGH verfolgt werden? Darüber hinaus verlieren die Opfer in den Fällen, in denen der Angeklagte – wie etwa im Fall Bemba – freigesprochen wird, den Status der Opferstellung, was die Opfer ein zweites Mal viktimisiert und schikaniert. Eine der möglichen Lösungen könnte die Registrierung oder generelle Anerkennung der Opfer der Situation als Opfer im Sinne von Regel 85 RPE durch die Kanzlei (Registry) und nicht durch einen Richter im Hinblick auf einen Einzelfall sein. Dies würde auch die Arbeitsbelastung der Richter erheblich verringern und die Verfahren beschleunigen. Die Opfergruppen könnten dann im weiteren Verfahren vertreten durch einen gemeinsamen gesetzlichen Vertreter im Verfahren erscheinen. Es scheint, dass nach zwei Jahrzehnten immer noch Raum für Diskussionen über die grundlegenden Fragen der Opferbeteiligung besteht, beginnend mit der Definition, wer gemäß Regel 85 RPE als Opfer zählt. Angesichts der Tatsache, dass der Gerichtshof aufgrund der Anträge der Opfer viele technische und logistische Schwierigkeiten hat, hat dies jedoch keine Auswirkungen auf die Arbeit der Vertreter der Opfer. Der Grund ist einfach; theoretisch gibt es keinen Unterschied, ob es mehr als tausend Opfer oder zehn Opfer gibt, die vom Rechtsbeistand vertreten werden. Es stellt sich die Frage, warum die Aufgabe des Vertreters nicht zu einer Art repräsentativer Vertretung der betroffenen Opfergemeinschaften vereinfacht werden sollte, unabhängig davon, ob sie als Opfer vor Gericht registriert sind oder nicht. Wenn der Gerichtshof in der Lage ist, alle Personen eines bestimmten Gebiets, die Schädigungen erlitten haben, als Opfer im Sinne einer Situation nach dem Römischen Statut oder alle Mitglieder einer bestimmten Personengruppe, die als solche angegriffen wurde, anzuerkennen, haben die Vertreter das Recht, die Opfergemeinschaften als solche zu vertreten, die von Makroverbrechen betroffen waren. Die Definition gemäß Regel 85 RPE ermöglicht auch die Anerkennung kollektiver Opfergruppen. Der IStGH mit seinem Treuhandfonds (TFV) will die Opfer internationaler Verbrechen entschädigen. Aufgrund der langen Verfahren vor dem IStGH ruhen die Hoffnungen der Opfer jedoch auf dem „Unterstützungsmandat“ des TFV. Im Rahmen seines Mandats organisiert der Treuhandfonds verschiedene Projekte in den Situationsgebieten, um mit den betroffenen Regionen und den dortigen Opfern zusammenzuarbeiten. Das an eine Verurteilung und das individuelle Urteil gebundene „Wiedergutmachungsmandat“ scheint nicht so wirksam zu sein. Die Missachtung der von der verurteilten Person verursachten und vom Gericht berechneten Schäden kann niemals repariert werden. In Anbetracht der Realität, dass in Kambodscha die finanzielle Wiedergutmachung nicht möglich sein wird, erklärten die ECCC, dass man sich dort nur auf symbolische Wiedergutmachung konzentrieren werde. Der Reparationsprozess gemäß der IStGH-Struktur dauert sehr lange und führt dazu, dass erschöpfte Opfer, die lange auf Wiedergutmachung gewartet haben, erneut nur eine falsche Hoffnung auf mögliche Reparationen erhalten. Der Treuhandfonds für Opfer sollte deshalb unabhängig vom Gericht arbeiten. Er sollte die Mittel aus den Spenden der freiwilligen Beiträge erheben und Projekte in den betroffenen Regionen und Situationsländern durchführen. Das Gericht kann weiterhin eine schnelle Wiedergutmachungsanordnung gegen die verurteilte Person erlassen, die dann direkt zum Treuhandfonds für Opfer beiträgt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das gesamte System der Opferbeteiligung am IStGH in gutem Glauben und mit guten Zielen unter Wahrung der anerkannten Menschenrechte geschaffen wurde. Es scheint jedoch, dass der Gerichtshof in einer Sackgasse der Wirksamkeit und Aussagekraft sowohl des Beteiligungs- als auch des Entschädigungsmechanismus gelandet ist.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Wiedergutmachung für Opfer von Makroverbrechen, MenschenRechtsMagazin 2020 Heft 1, S. 20-31
Safferling/Petrossian
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(2021): Victims Before the International Criminal Court. Cham: Springer International Publishing. XII, 390 S.
Safferling/Petrossian
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Ist die Krise des Internationalen Strafgerichtshofs auch eine Krise des Völkerstrafrechts? Digitalisierung, Globalisierung und Risikoprävention. : Festschrift für Ulrich Sieber zum 70. Geburtstag. 2 Teilbände 2021
Safferling, Christoph