Versorgungslücken oder Food Deserts in Deutschland: Lebensmitteleinzelhandel in der Peripherie
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Seit ca. zwei Jahrzehnten beschäftigt sich die Wissenschaft mit der Entwicklung, der Expansion und vor allem mit der inhaltlichen Absteckung sog. Food Deserts. Es setzt sich die Erkenntnis durch, dass Fragen der Ernährungssicherung nicht mehr nur in sog. developing countries auf globaler Ebene hohe Priorität besitzen, sondern Fragen zur Versorgungssicherung im Einkauf und der Bereitstellung von Lebensmitteln bis auf die lokale Ebene hinab auch in Ländern des globalen Nordens wachsendes Interesse auslösen. Vor allem in der angloamerikanischen Diskussion wurden sozialökologische Untersuchungen durchgeführt, um Standortmuster von Lebensmittelversorgungseinrichtungen mit soziodemographischen und sozioökonomischen Indikatoren zu korrelieren, um hieraus Nachteiligkeiten und Versorgungsverwundbarkeit für Bevölkerungsgruppen vor allem im Einkauf sog. frischer und gesunder Lebensmittel zu bezahlbaren Preisen zu erkennen und über politisch-planerische Interventionen zu begegnen. Zielen vor allem nordamerikanische Arbeiten auf den Einsatz von big data aus Volkszählungen, um hieraus die Größe sog. Food Deserts über GIS-Anwendungen räumlich konkret abzugrenzen und über objektive Indikatoren in ihrer statistischen Signifikanz zu charakterisieren, bedarf es neuer methodischer Zugänge, um Food Deserts nicht mehr nur als Ausdünnungsmuster von Angebotsstrukturen, sondern als raumrelevante Wahrnehmungs- und Handlungsmuster von Menschen zu begreifen. Individuell unterschiedliche und sich immer wieder über die Zeit und den Kontext veränderbare Food Desert-Erfahrungen manifestieren sich, in denen einige Personen(gruppen) große persönliche Nachteile erfahren, ihre Einkäufe zu tätigen. Andere Personen tragen aufgrund der Nichtnutzung von Betriebsformaten dazu bei, dass Food Deserts für verwundbare Gruppen erst entstehen. Eigene qualitative und quantitative Erhebungen in ländlichen Regionen des Bundeslandes Schleswig-Holstein in den Jahren 2015-2017 erlauben es, das Konzept von Food Deserts nicht mehr nur als Raummuster, sondern als Ergebnis psychographisch nachweisbarer und verfestigter Einstellungssets im Abgleich mit realen Handlungsmustern zu erweitern. In einer kombinierten Cluster- und Diskriminanzanalyse lassen sich fünf Gruppen unterscheiden, die sich in ihren mentalen Einstellungen und der Nutzung spezifischer Betriebsformate signifikant unterscheiden. Hieraus lässt sich einerseits ein gewisses Vorhersagepotenzial (predictability) ableiten, wie groß das Interesse bzw. das Vermeidungspotenzial von Haushaltsgruppen an unterschiedlichen Betriebsformaten ist und inwieweit sich kommunale Planung und Läden hierauf einstellen können, anderseits die Erkenntnis ableiten, dass Ladenangebote (selbst in Gebieten ohne weitere Einkaufsalternativen) nicht automatisch nachgefragt werden. Food Deserts existieren deshalb mitnichten nur dort, wo es bereits jetzt in weiten Teilen der ländlichen Räume (nicht nur in Deutschland) keinen einzigen Laden aus dem Lebensmittelbereich mehr gibt, sondern auch dort, wo selektive Einstellungs- und Handlungsmuster benachteiligten Bevölkerungsgruppen aufgrund von Mobilitäts- oder Altersgründen die letzten Einkaufsalternativen beschneiden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2017): Kunden zwischen Selbstwahrnehmung und tatsächlichem Einkaufsverhalten – Lebensmittelnahversorgung und food deserts in ländlichen Regionen am Beispiel Schleswig-Holstein. In: Dannenberg, P., Willkomm, M. & K. Zehner (Hrsg.): Einzelhandel in Deutschland – aktuelle Dynamiken im Kontext neuer Rahmenbedingungen. Mannheim: MetaGIS, S. 31-57
Jürgens, U.
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(2018): `Real´ versus `mental´ food deserts from the consumer perspective – concepts and quantitative methods applied to rural areas of Germany. In: Die Erde 149 (1), S. 25-43
Jürgens, U.