International expressionism. Intercultural transfer processes in the poetics of German expressionists.
General and Comparative Literature and Cultural Studies
Final Report Abstract
Das Anliegen des Forschungsprojekts war es, die internationalen Transferprozesse in der Literatur des deutschen Expressionismus zu kartieren. Die Rekonstruktion der internationalen Netzwerke der deutschen Avantgarde konnte die These eines autochthonen, rein deutschen Expressionismus in Frage stellen. Sie konnte zeigen, dass die deutsche Avantgarde eine Vielzahl von Impulsen aus dem Ausland integrierte und produktiv verarbeitete. Diese Internationalität unterscheidet den deutschen Expressionismus von anderen europäischen Avantgarden, die - wie etwa der italienische Futurismus - einen ungleich stärkeren nationalistischen Diskurs propagieren. Innerhalb des ersten Schwerpunkts des Projekts wurde der Expressionismus als Epoche des Kulturtransfers charakterisiert und die internationale Orientierung der Avantgarde als kritische und subversive Reaktion auf den Nationalismus und Chauvinismus der Wilhelminischen Ära profiliert. Die Untersuchung konnte zeigen, dass - so wie ein Nexus zwischen Nationalismus und Antimoderne (Heimatkunst) herrscht - ebenfalls ein bis heute unterschätzter Konnex zwischen Avantgarde und Internationalismus besteht. Im Unterschied zum Kulturtransfer der symbolistischen Dichtergeneration, der primär ästhetisch angelegt war, zeichnet sich der expressionistische Kulturtransfer durch die Verarbeitung von Diskursen aus, die nicht nur ästhetisch, sondern auch ethisch, religiös und politisch dimensioniert waren. Der französische Renouveau Catholique, der Tolstoismus sowie Anarchismus und Bolschewismus hinterließen einen besonders wirkmächtigen Einfluss auf die Expressionisten. Neben der expressionistischen Internationalität hat die Untersuchung ferner die expressionistische Europa-Reflexion in ihrer diachronen Wandlung in den Blick gerückt. War in der Vorkriegszeit Europa das selbstverständliche Referenzsystem der Avantgarde, lässt sich im Weltkrieg eine Regression ins Patriotische und eine daraus resultierende pangermanische Europa-Vision beobachten, während sich vor allem in den letzten Kriegsjahren ein dezidiert pazifistisches Europa-Konzept herauskristallisierte. Es wurde gezeigt, dass in diesem Kontext Nietzsches Kategorie des 'guten Europäers' eine polare Semantik entfaltete, indem sie sowohl von den Kriegsgegnern als auch den Kriegsbefürwortern beansprucht wurde. In der Nachkriegszeit schließlich lässt sich als Reaktion auf den Versailler Vertrag ein revanchistischer Rückfall in den Nationalismus beobachten, der auch literarisch eine kulturpatriotische Reorientierung nach sich zog. So verschärfte sich die schon in der Vorkriegszeit präsente Europa-Schelte durch den Weltkrieg zu einer grundsätzlichen Europa-Desillusion und Europa-Müdigkeit, die am Beispiel des Afrikanismus exemplarisch analysiert wurde. Einen weiteren Schwerpunkt stellte die expressionistische Übersetzungskultur dar, und zwar vor dem Hintergrund von Goethes ‚Weltliteratur‘-Konzept, dessen Anverwandlungen im Expressionismus erstmals systematisch und in diachroner Perspektive rekonstruiert wurden. Das bislang bekannte Textkorpus expressionistischer Übersetzungen konnte dank diverser Forschungsreisen, Archivaufenthalte sowie weiterer bibliographischer Erschließungsarbeiten erheblich erweitert werden. Dazu wurden in deutschen und österreichischen expressionistischen Zeitschriften und Anthologien sowie in Einzelpublikationen erschienene Übersetzungen im Untersuchungszeitraum 1910-1924 erstmals bibliographisch erfasst und ausgewertet. Überraschend ist u. a. auch die starke Präsenz präavantgardistischer Autoren, die von den Expressionisten im Sinne der Avantgarde neu gelesen wurden. Punktuell berücksichtigt wurden in der Untersuchung auch expressionistische Buchillustrationen ausländischer Literatur. Das Übersetzungsprofil der bedeutendsten expressionistischen Zeitschriften wurde diversifiziert und der Einfluss des Ersten Weltkriegs auf die Übersetzungspolitik vor allem am Beispiel des Sturms und der Aktion exemplarisch rekonstruiert. Erstellt wurde schließlich eine neue Gesamtbibliographie der als Einzelveröffentlichungen erschienenen Übersetzungen, die mehr als 260 Titel umfasst. Einen letzten Bereich formten schließlich Untersuchungen zu den intertextuellen und intermedialen Dialogen einzelner Dichter und Künstler wie Georg Heym, Georg Trakl, Theodor Csokor, Klabund und Hermann Scherer mit zentralen Vorbildern, die als ästhetische und/oder als ethische Autoritäten wirkten, darunter Émile Verhaeren, Arthur Rimbaud, August Strindberg und Fjodor Dostojewski.