Das Institut für Literatur Johannes R. Becher Leipzig (1955-1993). Literarische Schreibprozesse im Spannungsfeld von kulturpolitischer Vereinnahmung, pädagogischem Experimentieren und poetischem Eigensinn.
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Wie die nunmehr vorliegenden Ergebnisse anschaulich belegen, war das Becher-Institut Zeit seines Bestehens in engen und wechselseitigen Beziehungen mit dem Literaturbetrieb der DDR verbunden. Das gilt sowohl für den Einfluss der Kulturpolitik und der gesellschaftspolitischen Zäsuren, die in der Institutsgeschichte ihren Niederschlag fanden. Aber auch die literarischen Entwicklungslinien und Einschnitte, die sich außerhalb des Instituts vollzogen, wirkten sich auf die am Becher-Institut entstehende Lehre und Literatur aus. Erst aus diesen Widersprüchen zwischen Ideologie und einem selbst am Institut weitgehend autonom verstandenen Kunstverständnis ergaben sich die zahlreichen Konflikte und eine bisweilen sogar regelrechte „agonale Dynamik“ des Instituts: Das ambitionierte Ziel, Literatur von Weltrang zu schaffen, konnte das Haus trotz zahlreicher Anpassungen an den literaturpädagogischen „Versuchsaufbau“ einer ihrem Grundverständnis nach sozialistisch ausgerichteten Kunsthochschule nie gänzlich aufgeben. Insofern lässt sich die Frage, ob das Becher-Institut in seiner Funktion nun als ideologische Kaderschmiede oder ambitionierte Dichterschule zu bewerten sei, in einem vereinfachenden Entweder-Oder kaum beantworten. Als wesentlich vielschichtiger und in vielerlei Hinsicht auch doppelgesichtiger als eindeutige Polarisierungen es zuließen, erwiesen sich nicht nur die kulturpolitischen Aushandlungsprozesse, sondern auch die Ausbildungsformen und -strategien am Institut. Bemerkenswert erscheint vor diesem Hintergrund nicht zuletzt ein weiteres relevantes Ergebnis unserer Analysen – nämlich, dass am Becher-Institut jenseits seiner normativen und ideologischen Verpflichtungen trotzdem Lehrverfahren und künstlerische Ausbildungsziele entwickelt wurden, die der heutigen Ausbildungspraxis durchaus vergleichbar sind. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Autor-Genesen im akademischen Ausbildungskontext der DDR nicht unbedingt von den gegenwärtigen literarischen Aneignungsverfahren und Erfahrungshorizonten angehender Autoren im Rahmen eines künstlerischen Hochschulstudiums. Damit werden Muster und Strukturen einer akademischen Schriftstellerausbildung sichtbar, die sich vermutlich weitgehend unabhängig vom historischen und politischen Kontext entwickeln. Das ausgewertete Datenmaterial zu vierzig Jahren Lehrpraxis am ersten Literaturinstitut im deutschsprachigen Raum kann damit zur Wissensgewinnung auch für die heutige Lehrpraxis nachgenutzt werden. Die am DLL archivierten Seminar- und Abschlussarbeiten des Becher-Instituts werden nach Abschluss eines weiteren Forschungsvorhabens in die Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Leipzig überführt. Ein gerade in Vorbereitung befindlicher Projektantrag an das sächsische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst (SMWK) beinhaltet auch die Digitalisierung des Textarchivs des Becher-Instituts im Rahmen des sächsischen Landesdigitalisierungsprogramms.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher“, Leipzig (1955-1993). Literarische Schreibprozesse im Spannungsfeld von kulturpolitischer Vereinnahmung, pädagogischem Experimentieren und poetischem Eigensinn. In: Denkströme (14) 2015, Heft 2, S. 77-104
Lehn, Isabelle; Macht, Sascha; Stopka, Katja
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Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher“: Eine Institution im Wandel von vier Dekaden Literaturgeschichte. Vorwort. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge. Heft 3, 2016, S. 485-501
Lehn, Isabelle; Macht, Sascha; Stopka, Katja
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Die Einflussnahme des DDR- Staatssicherheitdienstes auf den Studienalltag am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“.: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge. Heft 3, 2016, S. 583-601
Macht, Sascha
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Ein Wort, geflissentlich gemieden. Dekadenz und Formalismus am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge. Heft 3, 2016, S. 530-548
Treichel, Hans-Ulrich
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Insel der Toleranz? Studieren und Schreiben in den 1980er Jahren am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“.: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge. Heft 3, 2016, S. 602-621
Stopka, Katja
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Rechenschaftsberichte und Seminarprotokolle, biographische Erzählungen und Zeitzeugenberichte. Eine Kritik zur Quellenlage des Instituts für Literatur „Johannes R. Becher“. In: In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge. Heft 3, 2016, S. 502-513
Stopka, Katja
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Von der Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft.“ Literarische Nachwuchsförderung und Begabtenpolitik am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge. Heft 3, 2016, S.514-529
Lehn, Isabelle
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Zur Schriftkultur im Institut für Literatur „Johannes R. Becher“. Eine Lektüre ausgewählter Absolventenarbeiten aus dem Direktstudiengang 1976-1979. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge. Heft 3, 2016, S. 567-582
Zöllner, Juliane
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„Was hat das mit sozialistischer Lyrik zu tun?“ Die Bedeutung der Lyrik am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ in der Ära Maurer. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge. Heft 3, 2016, S. 549-566
Becker, Maja-Maria
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„Wo das Glück sicher wohnt.“ Politische Kontrolle und Zensur am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge. Heft 3, 2016, S. 622-633
Lehn, Isabelle
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„leipzig ist die glücklichste zeit“. Ronald M. Schernikau am Institut für Literatur ‚Johannes R. Becher‘ (1986 - 1989). In: Peitsch, Helmut; Thein, Helen (Hg.): Lieben, was es nicht gibt. Literatur, Pop und Politik bei Ronald M. Schernikau. Berlin 2017, S. 245-272
Stopka, Katja
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Schreiben lernen im Sozialismus. Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher“. Göttingen: Wallstein (2018, 599 Seiten)
Lehn, Isabelle; Macht, Sascha; Stopka, Katja