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Anti-Modern Dissent in Russia

Subject Area Modern and Contemporary History
Term from 2014 to 2019
Project identifier Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Project number 263488320
 
Final Report Year 2019

Final Report Abstract

Gegenstand des Projekts war die Erforschung des anti-modernen/anti-westlichen Denkens in Russland vom 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Dabei wurde das Streben nach Ganzheit als ein typologisches Grundmuster dieses Denkens in Philosophie, Theologie, Politik, Kulturtheorie, Ästhetik sowie in naturwissenschaftlichen und mathematischen Konzepten verfolgt und Interdependenzen zwischen diesen Bereichen aufgezeigt. Mit seinem Insistieren auf Ganzheit wendet sich dieses Denken gegen die westeuropäische Moderne, verstanden als Auflösung und Zerstörung der "ganzheitlichen Kultur" des christlichen Mittelalters. Dieser Kulturtypus habe sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rus’ ausgeprägt und stehe in diametralem Gegensatz zur fragmentierten sogenannten "Renaissance-Kultur", der analytischen, szientifischen Rationalität ("Entzauberung der Welt") und der funktionalen Ausdifferenzierung der Systeme (Luhmann) im Westen. Als beispielhaft für Konzepte der russischen (All-)Einheitsphilosophie, des holistischen, monistischen und organizistischen Denkens erwiesen sich: Nikolaj Fedorovs Projekt des "gemeinsamen Werks", eine "aktive Eschatologie" und säkulare Variante einer "Apokatastasis panton", der Wiederherstellung der prälapsarischen Einheit und Ganzheit der Schöpfung und der – nun mit wissenschaftlich-technischen Mitteln zu bewerkstelligenden – "Wiederbringung aller"; Konstantin Ciolkovskijs monistische und hylozoistische "kosmische Philosophie" mit der anti-entropischen Auffassung des Universums als eines in Raum und Zeit unbegrenzten "lebendigen Organismus"; sowie der sogenannte "russische Kosmismus", der auf der Annahme einer zielgerichteten, sinnvollen Evolution (Noosphäre) basiert. Die holistische und anthropozentrische Weltauffassung des "Kosmismus" erweist sich als ein hybrides, Parawissenschaft und Esoterik verbindendes ideologisches Konstrukt ("invented Tradition") der späten Sowjetzeit, das in einen antiwestlichen Diskurs um die russische Identität mündet. Ausgehend von den dualistisch konstruierten Kulturtypenlehren von Pavel Florenskij und Aleksej Losev wurden in einem zweiten Teil zentrale Ideologeme des anti-modernen/antiwestlichen Denkens untersucht. Der Sieg des Nominalismus im Universalienstreit, die "kopernikanische Wende" sowie die Feier des autonomen vernunftgeleiteten Individuums in Renaissance, Humanismus und Aufklärung markieren in der katastrophischen Perspektive der Anti-Westler den Zerfall der (göttlichen) hierarchischen Ordnung (Kosmos) und damit den "Sündenfall" der abendländischen Zivilisation, die, dem Gesetz der Entropie (Nivellierung) folgend, im Chaos ende. Den kulturellen Gegentypus, den Russland gegenüber den Hegemoniebestrebungen des Westens und seinem liberalen Wertekanon zu verteidigen bzw. wiederzugewinnen habe, bildet das Konstrukt eines integralen "Neuen Mittelalters", gekennzeichnet unter anderem durch hierarchische und ideokratische Staatsentwürfe in der Tradition von Platons "Politeia". Gefordert wird die Rückbesinnung auf das byzantinische Erbe ("Neo-Byzantinismus"), die Wiederbelebung des sprachphilosophischen "kratylischen" Bedeutungrealismus (imjaslavie) sowie die Weiterentwicklung des Palamismus zum antiwestlichen "politischen Hesychasmus". "Orthodoxe Metaphysiker" und "integrale Traditionalisten" wie Aleksandr Dugin, aber auch regierungsnahe politische Kreise (Izborsker Klub) und hochrangige Geistliche sehen in Russland, dem "Dritten Rom", die "abolute Antithese des Westens" und beschwören seine heilsgeschichtliche "katechontische" Mission.

Publications

  • „Bereit für die Endzeit.“ Neobyzantismus in Russland, in: Osteuropa, 11–12, 2016, S. 15–42
    Michael Hagemeister
  • The Hybrid Ideology. Historian Michael Hagemeister traces the trajectory of Russian cosmism, in: InRussia, 2017
    Michael Hagemeister
  • Le „cosmisme russe“, „philosophie de l’avenir?“, in: Françoise Lesourd (Hg.): Le cosmisme russe. I. Tentative de définition, Toulouse 2018 (Slavica Occitania, 46), S. 49–67
    Michael Hagemeister
  • Nikolaj Fjodorows Projekt der universellen Erlösung und der „russische Kosmismus“, in: Boris Groys, Anton Vidokle (Hg.): Kosmismus, Berlin: Matthes & Seitz 2018, S. 168–184
    Michael Hagemeister
  • Nikolaï Fiodorov et son projet pour le salut de l’humanité, in: Françoise Lesourd (Hg.): Le cosmisme russe. II. Nikolaï Fiodorov, Toulouse 2018 (Slavica Occitania, 47), S. 65–74
    Michael Hagemeister
  • The Third Rome against the Third Temple: Apocalypticism and Conspiracism in Post-Soviet Russia, in: Asbjørn Dyrendal, David G. Robertson, Egil Asprem (Hg.): Handbook of Conspiracy Theory and Contemporary Religion, Leiden: Brill 2018, S. 423–442 (Brill Handbooks on Contemporary Religion; 17)
    Michael Hagemeister
    (See online at https://doi.org/10.1163/9789004382022_021)
  • „Der Tod ist eine der Illusionen des schwachen menschlichen Verstandes.“ Konstantin Ciolkovskijs ‚kosmische Philosophie‘“, in: Tatjana Petzer (Hg.): Unsterblichkeit. Geschichte und Zukunft des Homo immortalis, Berlin 2018, S. 17–24. (Interjekte 12/2018)
    Michael Hagemeister
  • Y a-t-il un „cosmisme russe“, et a-t-il même jamais existé?, in: G. Kauffmann et al. (Hg.): Mélanges offerts à Pierre-André Taguieff, Paris 2020
    Michael Hagemeister
 
 

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