Ratenspektren zur Quantifizierung der Oberflächenreaktivität
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Auflösung kristalliner Festkörper in wässrigen Medien verläuft komplexer als bisher angenommen. Unter konstanten physikochemischen Bedingungen ist die Reaktionsrate keine Materialkonstante. Die direkte Analyse der reagierenden Festkörperoberfläche zeigt auf Ratenkarten die Verteilung von unterschiedlich reaktiven Oberflächenbestandteilen. Diese Ratenunterschiede sind verantwortlich für die Entstehung von räumlichen Porenmustern in chemisch homogenen Materialien. Die Analyse der Ratenkarten erfolgt mit einem statistischen Konzept: Die Häufigkeitsverteilung (d.h., das Spektrum) der Ratenbeiträge zeigt, welche Beiträge zur Gesamtrate existieren, wie wichtig sie für die Gesamtrate sind und wie ihre zeitliche Entwicklung aussieht. In diesem Projekt wurde das Konzept der Ratenspektren erstmals systematisch angewendet, um eine verbesserte quantitative Einsicht in die Kristallauflösung zu erlangen. Experimentelle Untersuchungen und kinetische Monte Carlo (kMC)-Simulationsrechnungen wurden durchgeführt. Der Einfluss von unterschiedlichen Kristallorientierungen, unterschiedlichen Defekttypen und der Oberflächengeometrie auf die Spektrenentwicklung wurde systematisch untersucht. Damit konnte die belastbare Vorwärtsmodellierung von Reaktivitätskontrasten und die Vorhersage von initialen Halbporenmustern auf Kristalloberflächen durch Kalibrierung von kMC-Modellen erreicht werden. Ein möglicher Schritt zur Aufskalierung der Reaktivität in Simulationsrechnungen auf großskalige Systeme, bspw. makroporöse Keramiken oder Gesteine ist die neuentwickelte Methode der kMC-parametrisierten Voronoi-Tesselierung. Ein überraschendes Ergebnis ist die nachgewiesene Vererbung von Reaktivitätseigenschaften durch geometrische Randbedingungen der rauhen Kristalloberfläche. Bisher war davon auszugehen, dass die Defektdichte das Reaktionsverhalten dominiert. Kristalldomänen mit unterschiedlicher Defektdichte können jedoch eine „Erinnerung“ an vorherige Reaktionsperioden mit niedriger Defektdichte bewahren. Das pulsierende Verhalten der Materialfreisetzung auf Kristalloberflächen ist ein weiteres überraschendes Ergebnis. Die Ringstrukturen auf der Ratenkarte (links) illustrieren zeitliche Abschnitte hoher und niedriger Reaktivität in der Umgebung der Ausstichpunkte von Liniendefekten. Anders als ursprünglich angenommen, dominieren Serien von Reaktionspulsen die Kristallauflösung. Die Publikation zum pulsierenden Auflösungsverhalten von kristalliner Materie wurde u.a. durch eine Pressemitteilung am MARUM einem breiteren Publikum zugänglich. Darüberhinaus gab es eine Rezeption dieser Ergebnisse im Internet, z.B.: https://www.sciencedaily.com/releases/2018/01/180116111102.htm http://www.chemie.de/news/1153023/material-loest-sich-dynamisch-statt-kontinuierlich.html http://www.innovations-report.de/html/berichte/geowissenschaften/material-loest-sich-dynamisch-statt-kontinuierlich.html
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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2015. Direct Measurement of Surface Dissolution Rates in Potential Nuclear Waste Forms: The Example of Pyrochlore. ACS Applied Materials & Interfaces 7, 17857-17865
Fischer, C., Finkeldei, S., Brandt, F., Bosbach, D., Luttge, A.
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2017. Beyond the conventional understanding of water–rock reactivity. EPSL 457, 100-105
Fischer, C., Luttge, A.
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2017. Variability of Zinc Oxide Dissolution Rates. ES&T 51, 4297-4305
Michaelis, M., Fischer, C., Colombi Ciacchi, L., Luttge, A.
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2018. Inherited control of crystal surface reactivity. Applied Geochemistry 91, 140-148
Fischer, C., Kurganskaya, I., Luttge, A.
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2018. Pulsating dissolution of crystalline matter. PNAS 115, 897-902
Fischer, C., Luttge, A.