Quantitative Literaturwissenschaft
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Unter Quantitativer Literaturwissenschaft lassen sich zählende, messende, mathematische, statistische, geometrische, computergestützte und informatische Verfahren zusammenfassen, die für die Analyse und Interpretation von Literatur Verwendung finden. Das Forschungsprojekt war historisch und systematisch ausgerichtet. Der historische Aspekt umfasste die Geschichte der Verwendung quantitativer Verfahren in der (germanistischen) Literaturwissenschaft, während der systematische Aspekt die quantitativen Verfahren hinsichtlich der bearbeiteten Problem- und Fragestellungen in den Blick nahm. Die Geschichte der Verwendung quantitativer Verfahren lässt sich in drei Kulminationsphasen gliedern. Die erste Phase, in der quantifizierende Verfahren gehäufte Verwendung finden, fällt in die Dekaden um 1900 und steht im Zeichen des Positivismus und der empirischen Ästhetik jener Zeit. Die zweite Phase zwischen etwa 1950 und 1980 wird angestoßen durch die Technikund Fortschrittsbegeisterung der Nachkriegszeit und vorangetrieben durch die Entwicklungen der Informationstheorie und den Bau von Rechenmaschinen in großer Stückzahl. Die dritte Phase geht einher mit der Etablierung der modernen Digital Humanities ab etwa 2000. Aus systematischer Perspektive lässt sich feststellen, das vor allem stilometrische Untersuchungen einen prominenten Anwendungsbereich der Quantitativen Literaturwissenschaft bilden. Doch der zugrundeliegende Stilbegriff unterscheidet sich deutlich vom Stilbegriff der Rhetorik: Während diese die Figuren und Tropen zur kunstfertigen Gestaltung literarischer Sprache und zur Semantisierung sprachlicher Ausdrücke in den Blick nimmt, meint Stil in der Quantitativen Literaturwissenschaft die Zählbarkeit, Bestimmbarkeit und numerische Vergleichbarkeit sprachlicher Merkmale und Muster und ist hierin dem Stilbegriff der Digital Humanities sehr ähnlich. Bis weit ins 20. Jahrhundert finden Forschungen der Quantitativen Literaturwissenschaft eher inselhaft statt, Leistungen und Versuche werden nicht oder nur lose miteinander verknüpft und selten von anderen, die ebenfalls mit quantitativen Mitteln Literatur erforschen, wahrgenommen. Der Grund dafür liegt darin, dass sich die Philologien selbst erst ab etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts quantitativ mit Literatur beschäftigen. In der langen Zeit davor waren es meist Vertreter anderer Disziplinen wie Mathematik, Physik, Medizin oder Psychologie, die sich gewissermaßen im Nebenberuf rechnend mit Schöner Literatur befassten. Quantitative Literaturwissenschaft und Digitale Geisteswissenschaften sind nicht dasselbe. Denn Quantitative Literaturwissenschaft muss nicht unbedingt mit Computern arbeiten und umgekehrt stehen quantitative Verfahren in den modernen Digital Humanities nicht unbedingt im Vordergrund. Trotzdem lassen sich zwischen Quantitativer Literaturwissenschaft und Digital Humanities sowie innerhalb unterschiedlicher Arbeiten und Ansätze der Quantitativen Literaturwissenschaft Ähnlichkeiten beobachten. Diese bestehen vor allem hinsichtlich der Hoffnungen, Erwartungen und Ansprüche an die verwendeten Methoden. Erwartet werden Schnelligkeit, Effizienz, Automatisierung, intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Plausibilisierung der Forschungsergebnisse und die Hervorbringung neuer und innovativer Forschungsfragen. Überraschende Momente stellen Ansätze dar, die quantitative Methoden nicht mehr allein auf die Analyse und Interpretation von Literatur richten, sondern in umgekehrte Richtung zur Herstellung von Literatur, auch von Musik und Grafik nutzen. Frühe Beispiele sind der englische Mathematiker Christopher Strachey und der deutsche Mathematiker Theo Lutz, die weltweit als die ersten Vertreter der Computerliteratur gelten, und der deutsche Physiker Wilhelm Fucks, der mit seinen stochastischen Musiken als Komponist Neuer Musik in Erscheinung trat.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Quantitative Ansätze in den Literatur- und Geisteswissenschaften. Systematische und historische Perspektiven. Berlin: De Gruyter 2018
Toni Bernhart, Marcus Willand, Sandra Richter, Andrea Albrecht (Hg.)
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110523300) - Quantitative Literaturwissenschaft – Ein Fach mit langer Tradition? In: Toni Bernhart, Marcus Willand, Sandra Richter, Andrea Albrecht (Hg.): Quantitative Ansätze in den Literatur- und Geisteswissenschaften. Systematische und historische Perspektiven. Berlin: De Gruyter 2018, S. 207–219
Toni Bernhart
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110523300-009) - Maschinen können Gedichte schreiben. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 244, vom 22. Oktober 2019, S. 12
Toni Bernhart, Sandra Richter
- Rul Gunzenhäuser und die Stuttgarter Schule der mathematischen Literaturwissenschaften. In: Andrea Albrecht, Masetto Bonitz, Alexandra Skowronski und Claus Zittel (Hg.): Max Bense. Werk – Kontext – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2019, S. 323–335
Toni Bernhart
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-476-04753-3_13) - Beiwerk als Werk. „Stochastische Texte“ von Theo Lutz. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 34 (2020), S. 180–206
Toni Bernhart
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/editio-2020-0010) - „As a Hobby at First“. Künstlerische Produktion als Modellierung. In: Christof Schöch (Hg.): DHd 2020. Spielräume: Digital Humanities zwischen Modellierung und Interpretation. Konferenzabstracts. Redaktion: Nina Seemann und Benjamin Bellgrau
Toni Bernhart
(Siehe online unter https://doi.org/10.5281/zenodo.4621758) - Frühe digitale Poesie. Christopher Strachey und Theo Lutz. In: Informatik Spektrum 44 (2021), S. 11–18
Toni Bernhart & Sandra Richter
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s00287-021-01329-z)