Innovation durch Tradition? Jüdische Bildungsmedien als Zugang zum Wandel kultureller Ordnungen während der 'Sattelzeit'
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Der von Simone Lässig und Zohar Shavit geleitete Verbund ist der Frage nachgegangen, wie das deutschsprachige Judentum Mitteleuropas die Herausforderungen der Moderne bewältigt hat, denen es sich auch in seinen Kernbereichen – Lernen und Wissen – stellen musste. Die sechs Teilprojekte, von denen die DFG drei gefördert hat, sind von der These ausgegangen, dass historische Kollektive einen so grundlegenden sozialen Wandel, wie ihn das Judentum während der Sattelzeit im deutschsprachigen Europa erlebte, nur dann erfolgreich vollziehen können, wenn Innovation über wirksame Traditionsbezüge vermittelt und kulturell in vertraute Kontexte übersetzt wird. Der Verbund hat diese These am Beispiel von Bildungsmedien des 18./19. Jh. untersucht und in vollem Umfang bestätigt. Den Begriff „Bildungsmedien“ haben die Projektbeteiligten deutlich breiter gefasst, als in der Forschung bislang üblich. Untersucht wurden alle Texte und darauf bezogene Praktiken, die der Vermittlung und Aneignung von Wissen, Werten und Verhaltensnormen dienten. Diese weite Definition, die über spezifische Institutionen des Lernens ebenso hinausreicht wie über Heranwachsende als Adressaten von Bildungsmedien, hat ebenso wie das erkenntnisleitende Konzept Kulturelle Übersetzung dazu beigetragen, der Gleichzeitigkeit traditioneller und neuer Bildungspraktiken und den vielfältigen Kontexten jüdischer Wissensproduktion gerecht zu werden. Die untersuchten Quellen adressierten ein breites Publikum, die Gemeinde als Ganzes (maskilische Bildungsschriften, Predigten, Gesangbücher), vor allem aber Lehrer, Schüler und Eltern (Lehrbücher, Grammatiken). Ein sich wandelndes Erziehungswesen bedurfte neuer Bildungspraktiken, vorangetrieben von einer neuen Lehrergeneration, und es bedurfte auch neuer Lehrmittel, so etwa didaktisch aufbereiteter und an den zeitgenössischen pädagogischen Prinzipien ausgerichteter Texte. Ähnliches galt für die Neugestaltung des jüdischen Gottesdienstes mit deutschsprachiger Predigt und synagogaler Musik. Viele der im Projekt untersuchten Quellen entstammten konkreten praktischen Zusammenhängen, dem Unterricht oder dem Gottesdienst in einzelnen Gemeinden, doch zeugen sie von einem, über lokale Kontexte hinausreichenden Sendungsbewusstsein ihrer Autoren. Diese wollten über Publikationen ihr eigenes Wirken als Lehrer oder Rabbiner, Kantor oder Prediger überregional legitimieren, Reputation aufbauen und sich mit ihrem neuartigen Verständnis von jüdischem Wissen sozial neu positionieren. Überwiegend erfolgreich nahmen sie für sich eine Deutungshoheit in Anspruch, die weit über den konkreten Kreis ihres Wirkens hinausreichte und nicht allein jüdisches Lernen und Lehren betraf, sondern auch die grundsätzliche Frage nach Gehalt und Repräsentationen des Judentums einschloss. In kritischer Auseinandersetzung mit älterer Forschung konnte der interdisziplinäre Verbund aus unterschiedlichen Perspektiven zeigen, dass die neuen jüdischen „Meisterdenker“ von den Debatten ihrer Zeit und damit von protestantischem Denken teilweise stark beeinflusst waren, doch nichtjüdische Konzepte keineswegs affirmativ übernahmen. Vielmehr setzte sich eine neue Generation jüdischer Gelehrter und Intellektueller, Pädagogen und Rabbiner kritisch und eigenständig mit den Idealen der Aufklärung, des Philanthropismus und der zeitgenössischen Theologie auseinander. Im Rückgriff auf vielfältige Modi kultureller Verweisung versuchten sie immer wieder zu belegen, in welch hohem Maße neuartige, dem Judentum scheinbar fremde Ideen und Ideale, Handlungsnormen und Wertvorstellungen mit der jüdischen Tradition korrespondierten bzw. ihr eingeschrieben waren. Mit diesen Analysen und Erkenntnissen spiegelt der Verbund aktuelle Entwicklungen in den Jewish Studies und in bestimmter Hinsicht – etwa in Bezug auf Phänomene kultureller Übersetzung oder den Stellenwert der hebräischen Bibel und Bibelübersetzungen – hat er diese Neuorientierung der Forschung mit angestoßen und vorangetrieben. Als Angebot für die Fachgemeinschaften hat der Verbund eine bio-bibliographische Datenbank zu Bildungsmedien der Sattelzeit und ihren Autoren erstellt, die frei zugänglich ist: http://resources-jewish-education.net.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Cultural Translation: Ideological and Model Adjustment in Translation of Children’s Literature. In: Gabriele von Glasenapp, Ute Dettmar, and Bernd Dolle-Weinkauff (Hrsg.), Kinder- und Jugendliteraturforschung international: Ansichten und Aussichten. Frankfurt am Main: Peter Lang 2014, 31-52
Zohar Shavit
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Systeme des Wissens und Praktiken der Erziehung. Transfers und Übersetzungen im deutschen Judentum des 19. Jahrhunderts. In: Hans-Joachim Hahn et al. (Hrsg.): Kommunikationsräume des Europäischen – Jüdische Wissenskulturen jenseits des Nationalen, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2014, 7-34
Simone Lässig
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„Rousseau under Maimonides’ Cloak.“ The strategy of introducing Enlightenment literature into the new Jewish library: The case of publication of paragraphs of Jean-Jacques Rousseau’s Émile in Ha-me’assef. In: Zion 79.2 (2014), 135-174 [Hebräisch]
Zohar Shavit
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Old and New Orders of Knowledge in Modern Jewish History. In: Bulletin of the German Historical Institute 59 (Fall 2016), 59-82
Kerstin von der Krone
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The History of Knowledge and the Expansion of the Historical Research Agenda. In: Bulletin of the German Historical Institute 59 (Fall 2016), 29-58
Simone Lässig
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Train Up a Child: On the Maskilic Attempt to Change the Habitus of Jewish Children and Young Adults. In: Journal of Jewish Education 83, 1 (2016), 28-53
Zohar Shavit
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“Do Not Turn a Deaf Ear or a Blind Eye on Me, as I Am Your Son”: New Conceptions of Childhood and Parenthood in 18th- and 19th-Century Jewish Letter-Writing Manuals. In: Journal of Jewish Education 83,1 (2016), 4-27
Tal Kogman
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Space and Spatiality in Modern German-Jewish History, Oxford/New York: Berghahn 2017, Paperback 2019
Simone Lässig, Miriam Rürup (eds.)
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A “Jewish Sattelzeit”? Recasting an Era of Upheaval and Transformation, in: Forum The Vanishing Nineteenth Century in European History? A Comparative Exploration. Special Issue Central European History December 2018, pp. 42-47
Simone Lässig
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Ordnungen religiösen Wissens: Tora und Bibel in jüdischen Religionslehrbüchern des 19. Jahrhunderts, In: Daniel Vorpahl, Shani Tzoref, Sophia Kähler (eds.), Deutsch-jüdische Bibelwissenschaft: Historische, exegetische und theologische Perspektiven. Berlin: Walter de Gruyter, 2019, p. 93–112
Kerstin von der Krone
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Kaleidoscope and Lens: Revisioning the Past through the History of Knowledge, in: Simone Lässig/Andreas Weiß (Eds.), The World for Children, Oxford/New York: Berghahn 2020, pp. S. 272-294
Simone Lässig
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Samuel Adler in New York. Nineteenth-Century Jewish Education in Transatlantic and Translational Perspective. In: Isensee, F., Oberdorf, A., Töpper, D. (Eds.).,Transatlantic Encounters in History of Education. New York: Routledge, 2020
Kerstin von der Krone
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“Cultural Translation and the Recruitment of Translated Texts to Induce Social Change: The Case of the Haskalahh.” McMartin, Jack, and Jan Van Coillie, eds. Children’s Literature in Translation: Texts and Contexts. Leuven: Leuven University Press, 2020
Zohar Shavit