Mathematik und ihre Öffentlichkeiten: Vermittlung, Transformation und Rezeption mathematischen Wissens jenseits des fachwissenschaftlichen Diskurses in Deutschland, 1871-1960
Mathematik
Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Ausgehend von den besonderen Rahmenbedingungen der Mathematik – disziplinübergreifende Ressource einerseits, schwer zugängliche Strukturwissenschaft andererseits – gründete die Analyse der in den Blick genommenen Kommunikationsprozesse mathematischen Wissens an unterschiedlich vorgebildete Laien auf der Auswertung einer breit gefächerten Auswahl „populärer“ Zeitschriftenund Buchpublikationen. Dabei zeigte sich, dass die Präsenz der Mathematik im Wesentlichen drei mathematik- und wissenschaftshistorisch relevanten Entstehungskontexten zuzuordnen ist: 1) die den Zeitraum ca. 1880-1920 dominierende Bildungsdiskussion und die damit einhergehende pädagogische Reformbewegung, in der die Mathematik vertreten durch Felix Klein (1849-1925) eine zentrale Rolle einnahm, 2) die in den 1920er Jahren unter anderem im Kontext der Rezeption von Oswald Spenglers (1880-1936) „Der Untergang des Abendlandes“ aufkommenden Auseinandersetzungen um die Historizität von Wissenschaft im Allgemeinen und der Mathematik im Besonderen, 3) die über den gesamten Untersuchungszeitraum andauernden Kontroversen um die Anwendungen und die Anwendbarkeit der Mathematik. Die biographischen Recherchen zu den ermittelten Autoren, Redakteuren und Herausgebern ergaben, dass etwa 75% dieser Akteure der die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer vertretenden Lehrerschaft angehörten. Die medienhistorische Untersuchung des Quellenmaterials lieferte eine Fülle von Erkenntnissen zur Struktur und Rezeption einiger für die Mathematik relevanter Publikationsorte und eine Übersicht zu den verhandelten mathematikbezogenen Themenkomplexen. Es zeigte sich auch, dass die untersuchten Kommunikationsmittel primär der Konstruktion identitätsbestimmender Selbstbilder zur Legitimierung der Mathematik dienten und kaum der Vermittlung schwer darstellbarer aktueller Forschungsergebnisse. Die mathematik- und wissenschaftshistorische Analyse der vielfältigen publizistischen, bildungs- und wissenschaftspolitischen Aktivitäten des Mathematikdidaktikers Walther Lietzmann (1880-1959), des Pädagogen und Mathematikhistorikers Heinrich Wieleitner (1874-1931) und des Versicherungsmathematikers und Pädagogen Paul Riebesell (1883-1950) führte zu tiefgehenden Einsichten über Entstehungskontexte, Formen und Funktionen medial vermittelter Selbst- und Fremdbilder der Mathematik. Die in diesem Zusammenhang gewonnenen Erkenntnisse leisten insbesondere einen Beitrag zum besseren Verständnis von Mathematisierungsprozessen der Biologie und der Nationalökonomie nach 1900. Den Auswirkungen der von forschenden Mathematikern praktizierten Wissensvermittlung an Laien auf die Einordnung mathematischer Inhalte im fachwissenschaftlichen Diskurs nachzugehen (wie ursprünglich geplant), erwies sich auf Grund der geringen Anzahl entsprechender Akteure als wenig ertragreich. Die bisher aufgezeigten Befunde legten es stattdessen nahe, die erkenntnistheoretische Dimension der Untersuchung in den Kontext disziplinärer Legitimierungsstrategien und damit mathematikspezifischer Wissenschaftskommunikation, kurz Mathematikkommunikation zu stellen. Essentiell in diesem Zusammenhang ist die Frage nach Transformationen wissenschaftlichen Wissens durch eine von medialen, gesellschafts- und wissenschaftspolitischen Nebenbedingungen beeinflussten Kommunikation. Die inhaltlich-sprachliche Analyse einer repräsentativen Auswahl von Texten bestätigte dabei die Annahme, dass die Integration mathematischer Formelsprache ein mögliches Maß für inhaltliche Transformationsprozesse darstellt. In Bezug auf die Schlüsselbegriffe Beweis, Funktion und unendlich konnten darüber hinaus entlang unterschiedlich mathematisch vorgebildeter und epistemisch sozialisierter Publiken deutliche Bedeutungsverschiebungen nachgewiesen werden. Die Setzung des wissenschaftssoziologisch-erkenntnistheoretisch konnotierten Begriffes Mathematikkommunikation eröffnet insbesondere ein neues Forschungsfeld, das auf vielfältige Weise an aktuelle Forschungsrichtungen anknüpft, die sich anderen Aspekten der Kommunikation mathematischen Wissens im 19. und 20. Jahrhundert widmen und ebenso wie das hier dargestellte Projekt zu einer Annäherung von Wissenschafts- und Mathematikgeschichtsschreibung beitragen.