Recht und Kriminalität im 19. Jahrhundert: Sondergerichte und Öffentlichkeiten
Final Report Abstract
Beide Teilprojekte sind in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem zentralen Deutungsansatz der rechtshistorischen Forschung zum 19. Jahrhundert (Reformen führten zu mehr Rechtsgleichheit und Rechtseinheit) zu einer Neueinschätzung der Rechtsreformen gekommen. Erstens, das Universitätsgericht war entgegen der zeitgenössischen Deutungen und im Unterschied zum übrigen hannoverschen Rechtswesen zeitweise geradezu ein Ort der Modernisierung und eben nicht – wie von weiten Teilen heutiger Forschung behauptet – ein Hort frühneuzeitlicher Rückständigkeit. Dieses Ergebnis macht nicht nur eine Neubewertung von Universitätsgerichten notwendig, sondern stellt auch die Bewertung der anderen Sondergerichte auf den Prüfstand. Dies umso mehr als, zweitens, erst die schrittweise vorgenommenen Einschnitte zu einer Durchbrechung der im übrigen Rechtswesen üblichen Logiken führten und dadurch erst das Universitätsgericht zu einer als „Sondergericht“ wahrgenommenen Institution machten. In der Praxis zeigte das Universitätsgericht im Vergleich, drittens, durchaus paternalistische Züge, die sich jedoch nicht gegen die eine oder andere Partei richteten – also nicht, wie häufig behauptet, eine Bevorzugung der Studenten – sondern auf die konfliktfreie Einhaltung der Urteilssprüche gerichtet waren. Viertens und die Ergebnisse des Teilprojektes 2 resümierend: die strafprozessualen Reformen, welche in der Jahrhundertmitte durchgeführt wurden, hatten die Erwartung, die Bevölkerung stärker mit der staatlichen Institution Gericht zu verzahnen, zwar grundsätzlich erfüllt, wurden allerdings vom Gros der Juristen im Kaiserreich kritisch betrachtet. Fünftens, auch nach den Reformen im Gefolge von 1848 wie 1871 war das Geschehen durch Machtasymmetrien zu Ungunsten von Frauen, Unterschichten oder gesellschaftlichen Außenseitern bestimmt. Keineswegs aber war dabei das Justizsystem die Ursache, sondern vielmehr das Instrument, mithilfe dessen die bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheiten des 19. Jahrhunderts reproduziert wurden, anstatt diese zu verhindern bzw. zu beenden. Dabei ist zu betonen, dass die Gerichte nicht als Instrumente einer „herrschenden“ Schicht betrachtet werden können, denn sie boten gerade auch den Schwächeren die Möglichkeit, ihre Interessen in einem vertikalen Prozess (also gegen sozial Höherstehende) durchzusetzen. Sechstens zeigt die Untersuchung gerade einer ländlichen Region, dass Rechtsfindung im Kaiserreich nicht nur Teil der gerichtlichen Öffentlichkeit war, sondern allein durch die Wahl der Vernehmungsorte, welche etwa auch Gasthäuser sein konnten, ganz andere Öffentlichkeiten von Anfang an die Ermittlungen mitbestimmten. Siebtens beschränkte sich die Funktion der Öffentlichkeit keineswegs auf die von vielen zeitgenössischen Rechtsreformern und weiten Teilen der Forschung behauptete Kontrolle der Rechtsfindung. Vielmehr führten neue – von den Rechtsreformen intendierte wie nicht intendierte – Öffentlichkeiten auch dazu, dass die Bevölkerung befähigt wurde, selbstständiger vor Gericht zu agieren. Darüber hinaus wurde achtens die starke Bedeutung eines religiös verstandenen Eides im Rechtswesen des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet. Drei für die gesamte Beurteilung des Rechtswesens im langen 19. Jahrhundert relevante Ergebnisse könnten anregend für weitere Untersuchungen sein: 1. Veränderungen der Justiz – auch im 19. Jahrhundert – sind stärker im transepochalen Zuschnitt zu beantworten, da nur so die Spezifika und langfristigen Kontinuitäten und Persistenzen erkennbar werden. 2. Die Untersuchung des Eides im Zivilverfahren sowie der Diskussion um den Meineid zeigt, welche fundamentale Rolle religiöse Deutungsmuster, Handlungsweisen und Personen im zunehmend säkularisierten Gerichtswesen spielten. 3. Die Kombination von diskursanalytischen Untersuchungen insbesondere juristischer Texte mit mikrohistorischen Falluntersuchungen eröffnet die Möglichkeit, Rechtsgeschichte stärker auch als Teil einer allgemeineren Sozial-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte zu justieren. Die 2008 von der Antragstellerin erschienene Monographie „Diebe vor Gericht“ erhielt 2011 die Auszeichnung Geisteswissenschaften International – Preis zur Förderung der Übersetzung geisteswissenschaftlicher Werke und wird in Kürze in englischer Sprache erscheinen.
Publications
- Diebe vor Gericht. Die Entstehung der modernen Rechtsordnung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2008
Rebekka Habermas
- Jenseits von Klassenjustiz. Ein Blick in die ländliche Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 629–658
Alexandra Ortmann
- Rechts- und Kriminalitätsgeschichte revisited – ein Plädoyer, in: Rebekka Habermas/Gerd Schwerhoff (Hg.), Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalitätsgeschichte, Frankfurt a. M. 2009, S. 19–41
Rebekka Habermas
- Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalitätsgeschichte, Frankfurt a. M. 2009.
Rebekka Habermas/Gerd Schwerhoff
- Des Bürgers Recht. Hannoversche Debatten und die Praxis vor Gericht (1814–1866), in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 82 (2010), S. 27–66
Wiebke Jensen
- Vom ‚Motiv‘ zum ‚Zweck‘. Das Recht im täglichen Wandel – das Beispiel der Reichsstrafprozessordnung 1879, in: Michelle Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht? – Interdisziplinäre Rechtsforschung zwischen Rechtswirklichkeit, Rechtsanalyse und Rechtsgestaltung, Baden-Baden 2010, 393–414
Alexandra Ortmann
- Chicaneur, Dieb und Hure. Beleidigungsklagen vor dem Göttinger Universitätsgericht (1814–1852), in: Sylvia Kesper-Biermann/Ulrike Ludwig/Alexandra Ortmann (Hg.), Ehre und Recht – Ehrkonzepte, Ehrkonflikte und Ehrverlust in Früher Neuzeit und Moderne, Magdeburg 2011, 161–176
Wiebke Jensen
- Ehre und Recht – Ehrkonzepte, Ehrkonflikte und Ehrverlust in Früher Neuzeit und Moderne, Magdeburg 2011
Sylvia Kesper-Biermann/Ulrike Ludwig/Alexandra Ortmann
- Staatsbürger vor Gericht. Die Kulturgeschichte der Strafjustiz 1879–1924, Dissertation, Göttingen 2011
Alexandra Ortmann