Zum Wandel von Arbeit durch computerisiertes Wissen im Operationssaal aus der Geschlechterperspektive
Final Report Abstract
Im Rahmen des Forschungsprojekts ist meine Habilitationsschrift „Die Sozialität des Visuellen. Fundierung der hermeneutischen Videoanalyse und materiale Analysen“ entstanden. Darin wird sowohl empirisch als auch theoretisch gezeigt, dass es objektive Gesten und Mimik gibt, die auf einer vorbewussten Ebene intersubjektiv zugänglich sind, ohne dass in der Situation Sprache verwendet werden muss. Die visuell-leiblichen Verhaltensäußerungen werden aus der Abhängigkeit von der bewussten, intendierten Handlung gelöst und als eigenständige Handlungen anerkannt. Bisherige Praxis- und Kulturtheorien werden damit um diejenigen Aspekte sozialer Interaktion ergänzt, die durch die Abwehr des Behaviorismus verlorengegangen waren. Kultur ist nicht nur sprachlich fundiert, sondern sie ist auch vorreflexiv und spontan. In der Habilitationsschrift wird damit die theoretische Grundlage für Videoanalysen gelegt und begründet, warum und wie Erfahrungswissen in Videos erkennbar ist. Die von mir vorgelegte hermeneutische Videoanalyse bietet das theoretische und methodische Gerüst, um sowohl die objektivierbaren als auch die nicht-objektivierbaren Elemente von Erfahrungswissen zu explizieren und für Lehrbücher zu systematisieren. Für viele Ausbildungsberufe wie z.B. die Pflege, für Friseure/innen oder Mechaniker/innen liegen in Lehrbüchern keine Systematisierungen der nicht-objektivierbaren Anteile von Erfahrungswissen vor. Dies kann mithilfe der hermeneutischen Videoanalyse erbracht werden. Im Forschungsprojekt wurde außerdem der Frage nachgegangen, ob und wenn ja, wie sich die Geschlechterhierarchien und Machtverhältnisse zwischen den Berufsgruppen des Operationssaals durch die Einführung von Computeranwendungen, so genannten OP-Managementsystemen, verändern. Hintergrund war dabei die Annahme, dass die Computerisierung zu einer Strukturveränderung von Wissen und Handeln führt, weil die nichtobjektivierbaren Anteile von Erfahrungswissen nicht formalisierbar sind und in die Computeranwendung eingeschrieben werden können. Im Projekt wurden die OPs von zwei Krankenhäusern miteinander verglichen, die über eine vergleichbare Anzahl an Sälen verfügten und in denen das gleiche OP-Managementsystem von derselben Firma eingeführt wurde. Während im ersten Krankenhaus die starke Hierarchisierung zwischen Ärzteschaft und Pflegepersonal durch die Computerisierung aufgebrochen wurde, bewirkte die Einführung des OP-Managementsystems im zweiten Krankenhaus die Stabilisierung der bestehenden Geschlechterordnung. Die Ergebnisse zeigen deshalb, dass die OP-Managementsysteme keine feste Geschlechterordnung verkörpern, sondern genügend Interpretationsspielraum für die Aushandlung von Bedeutungen lassen. Dies steht im Gegensatz zu Publikationen, die belegen, dass die Geschlechterordnung während des Designs in Technik eingeschrieben wird. Im ersten Krankenhaus hatte sich mit der Einführung der OP-Managementsysteme ein kooperativer Arbeitsstil herausgebildet, durch den die OP-Schwestern Macht ausüben und die relevante Unsicherheitszone der OP-Planung kontrollieren konnten. Computerexpertise stellte hier zusammen mit Geschlecht und Profession eine Statuseigenschaft dar. Die statusreiche leitende Ärzteschaft aus Chirurgie und Anästhesie war deshalb dazu legitimiert, die Computeranwendung zu Status- und Prestigegewinn zu benutzen. Die statusarme leitende OP-Schwester begegnete dagegen Widerständen, wenn sie das OP-Managementsystem zur Einflussnahme einsetzen wollte. Es konnten aber ihre Strategien beschrieben werden, mit denen sie die an sie herangetragenen Statuserwartungen unterlief. Sie hat ihre Beiträge zur OP-Planung mit Hilfe von Konsens durchgesetzt, indem sie auf gemeinsam geteilte Deutungen rekurrierte. Es wurde gezeigt, dass letztere Bestandteile des objektivierbaren Erfahrungswissens sind. Sie musste die nicht-objektivierbaren Bestandteile ihres Erfahrungswissens also außen vorlassen um Macht ausüben zu können und wie die leitende Ärzteschaft den OP-Plan im OP-Managementsystem zu gestalten. Im zweiten Krankenhaus hatte das OP-Managementsystem dagegen bestehende Verhältnisse stabilisiert. In dem Arbeitsstil der abhängigen Zuarbeit wurden computerisierte Tätigkeiten mit assistierenden Tätigkeiten gleichgesetzt und als solche abgewertet. Computerexpertise war hier keine Statuseigenschaft. Ausschließlich die chirurgischen Assistenzärzte und –ärztinnen sowie die OP-Schwestern mussten die Daten in das OP-Managementsystem eingeben. Die eigentliche OP-Planung, die die relevante Unsicherheitszone darstellt, wurde jedoch nach wie vor zwischen „Tür und Angel“ von den leitenden männlichen Chirurgen gemacht.
Publications
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(2008). Medizinische Formulare in Aktion: Der Umgang mit einem Routinebruch im Arzt-Patient-Gespräch. In: Bude, Heinz (Hg.). Die Natur der Gesellschaft, Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel vom 9.-13.10.2006, Sektion Wissenschafts- und Technikforschung, 3070-3081
Kissmann, Ulrike Tikvah
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(2009). Fürsorgliche Orientierung jenseits des Arzt-Patienten Verhältnisses: Informationsarbeit im Operationssaal. Feministische Studien, Jg. 27, Heft 2 (November), 302-315
Kissmann, Ulrike Tikvah
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(2009). How medical forms are used: The study of doctor-patient consultations from a sociological hermeneutic approach. In: Kissmann, Ulrike Tikvah (ed.). Video Interaction Analysis: Methods and Methodology. Frankfurt/M. et al.: Peter Lang, 87-105
Kissmann, Ulrike Tikvah
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(2009). Video Interaction Analysis: Methodological perspectives on an emerging field. In: Kissmann, Ulrike Tikvah (ed.). Video Interaction Analysis: Methods and Methodology. Frankfurt/M. et al.: Peter Lang, 9-18
Kissmann, Ulrike Tikvah
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(2009). Video Interaction Analysis: Methods and Methodology. Frankfurt/M. et al.: Peter Lang
Kissmann, Ulrike Tikvah
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(2012). Die Sozialität des Visuellen. Fundierung der hermeneutischen Videoanalyse und materiale Analysen. Habilitationsschrift, Philosophischen Fakultät III, Humboldt- Universität zu Berlin
Kissmann, Ulrike Tikvah