Vielteilchen-Konzepte zur Behandlung der komplexen Materialflussdynamik in Produktions- und Logistiksystemen: Lernen von Verkehrsmodellen
Final Report Abstract
Im Rahmen des Forschungsvorhabens gelang es durch die Übertragung von Modellierungskonzepten aus dem Bereich der Verkehrsdynamik auf Produktions- und Logistiknetzwerke, ein besseres Verständnis der nichtlinearen Dynamik dieser Materialflusssysteme zu erlangen. Auf Basis dieser Fortschritte konnten unter Ausnutzung von aus anderen Bereichen (beispielsweise der Fußgängerdynamik) bekannten Selbstorganisationsphänomenen verschiedene Konzepte zur dezentralen und autonomen Steuerung solcher Systeme abgeleitet werden. Konkrete praktische Anwendungsbereiche, die hierbei besondere Beachtung fanden, sind die Steuerung von Lichtsignalanlagen in urbanen Straßennetzwerken, von führerlosen Transportmitteln in kleinräumigen Transportsystemen, sowie von Materialflüssen innerhalb einzelner Fertigungsanlagen. Als wesentliche Projektergebnisse, welche über den Stand des Wissens zum Zeitpunkt der Antragsstellung hinausgehen, sind insbesondere hervorzuheben: 1. Modellierungsansätze aus dem Verkehrsbereich lassen sich in vielfältiger Weise für die Beschreibung von Produktions- und Logistiknetzwerken verwenden. 2. Die empirisch beobachtbaren Ankunftszeitverteilungen in Materialflusssystemen lassen sich unter Berücksichtigung von Paarwechselwirkungen zwischen einzelnen Transportelementen im Rahmen eines einfachen stochastischen Modells beschreiben. 3. Die Aufschaukelung von Angebots- und/oder Nachfrageschwankungen entlang einer Produktionskette (Bullwhip-Effekt) lässt sich durch gemischte Push-Pull-Strategien unterbinden. Dieses Ergebnis ist auch für die Vermeidung von Stop-and-Go-Wellen im Straßenverkehr von potentiellem Interesse. 4. Die Dynamik von Produktions- und Logistiknetzwerken lässt sich mithilfe methodischer Ansätze aus dem Bereich der nichtlinearen Zeitreihenanalyse sinnvoll klassifizieren und quantitativ charakterisieren. Entsprechende Methoden erlauben darüber hinaus die empirische Detektion dynamischer Instabilitäten und Regimewechsel. 5. Konfligierende Materialflüsse lassen sich mittels Ansätzen aus dem Bereich der Fußgängerdynamik in vielen Fällen selbstorganisiert regeln. Ein entsprechender Realisierungsvorschlag für die Steuerung von Lichtsignalanlagen wurde entwickelt, welcher in Simulationen klare Vorteile gegenüber existierenden Ansätzen zeigt. 6. Unerwünschte Umlagerungsprozesse innerhalb von Fertigungsanlagen lassen sich durch eine paarweise Kommunikation einzelner Transporteinheiten reduzieren. Im Zusammenhang mit der Nutzung moderner Identifikationstechnologien ermöglicht dies eine weitgehend automatische Optimierung von Produktionsprozessen. 7. Empirische Erkenntnisse aus dem Bereich der Fußgängerdynamik lassen sich zur Entwicklung eines einfachen Steuerungskonzepts für führerlose Transportfahrzeuge verwenden, welches vollständig auf Selbstorganisationsprinzipien beruht. 8. Materialflussnetzwerke haben je nach ihrem konkreten Einsatzzweck generische strukturelle Eigenschaften. Die Nutzung netzwerktheoretischer Ansätze ermöglicht die Identifikation potentieller Schwachstellen und eine entsprechende Layout-Optimierung. Das geförderte Forschungsvorhaben hat in vielen Teilbereichen wertvolle Grundlagen für weiterführende Arbeiten sowie konkrete Praxisanwendungen gelegt. Besonders hervorzuheben sind dabei die folgenden drei Anwendungsbereiche: Durch weitreichende Analogien zu Beobachtungen aus dem Bereich der Fußgängerdynamik und der dort bekannten Selbstorganisationsphänomene war es möglich, ein mathematisches Modell zu entwickeln, welches eine entsprechende autonome Kontrolle auf makroskopischer Ebene für beliebige konfligierende Materialflüsse ermöglicht. Hierzu wurden parallel zum geförderten Projekt bereits praxisorientierte Algorithmen sowie mögliche technische Spezifikationen entwickelt, die einen Einsatz im Bereich der Steuerung von Lichtsignalanlagen in urbanen Verkehrsnetzen ermöglichen könnten. Erste Simulationsstudien hierzu wurden durchgeführt und lassen auf sehr positive Ergebnisse künftiger Praxistests unter Realbedingungen hoffen. Die konkrete Umsetzbarkeit der entsprechenden Konzepte soll im Rahmen eines künftigen Forschungsvorhabens genauer untersucht werden. Für die Selbststeuerung führerloser Transportfahrzeuge wurde im Rahmen dieser Arbeit ebenfalls ein vielversprechender Ansatz entwickelt, welcher auf einem etablierten mathematischen Modell aus dem Bereich der Fußgängerdynamik basiert. Mögliche technische Spezifikationen hierfür wurden bereits andiskutiert, Details werden jedoch Gegenstand künftiger Forschungen sein. Ähnlich wie bei den oben genannten Lichtsignalanlagen wird hierbei ein konkretes Verwertungspotential der künftigen Projektergebnisse gesehen. Als dritter Aspekt ist die Vermeidung von nicht notwendigen Umlagerungsprozessen in Fertigungsanlagen zu nennen. Hierzu wurde im Rahmen des Forschungsprojekts das „Social- Goods-Konzept“ vorgeschlagen, welches auf Basis einer Kommunikation einzelner Transport- und Produktionseinheiten eine automatische Priorisierung zeitkritischer Aufträge ermöglicht. Durch die Vermeidung von zusätzlichen Transporten aufgrund von Umlagerungsvorgängen kann hier eine Effizienzsteigerung des Gesamtsystems im Sinne eines insgesamt höheren Durchsatzes bzw. kürzerer Gesamtbearbeitungszeiten erreicht werden. Im Bereich der Verpackungsindustrie wurde ein Ansatz für eine konkrete Realisierung mittels RFID- Methoden bzw. anderer Verfahren zur automatischen Identifikation einzelner Transporteinheiten vorgeschlagen, welche jedoch noch in Simulationen ihre Umsetzbarkeit und potentiellen Vorteile unter Beweis stellen muss. Hierzu sind weitergehende, auf dem geförderten Forschungsvorhaben aufbauende Arbeiten geplant. Über die oben genannten Anwendungsbereiche hinaus haben sich im Rahmen der innerhalb des Projekts entwickelten bzw. weiterentwickelten mathematischen Modelle weitreichende Potenziale zur analytischen Beschreibung verschiedenster dynamischer Phänomene gezeigt, die in künftigen Arbeiten näher untersucht werden sollen. Dies gilt beispielsweise für das Verhalten von allgemeinen Materialflusssystemen unter gemischten Produktionsstrategien, welche zwar eine Aufschaukelung unerwünschter Schwankungen entlang der Lieferkette unterbinden können, dafür jedoch gleichzeitig das Risiko eines Auftretens anderer dynamischer Instabilitäten im Materialfluss erhöhen. In einer weitergehenden Untersuchung der entsprechenden Modellierungsansätze wird das Potential gesehen, neuartige Steuerungskonzepte für die Kontrolle von Materialflüssen in allgemeinen Produktionsnetzwerken abzuleiten.
Publications
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R. Donner