Freundschaft und Gewalt im Jugendalter
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Ziel des Forschungsprojekts „Freundschaft und Gewalt im Jugendalter“ war ein tieferes Verständnis der Mechanismen, die zu jugendlichem Gewalthandeln führen. Zum einen sollte auf Basis integrativer Handlungstheorien der Frage nachgegangen werden, durch welche Mechanismen gewalttätiges Handeln zustande kommt. Zum anderen sollte die Bedeutung der Peergruppe für Gewaltdelinquenz untersucht werden. Ein Fokus lag dabei jeweils auf gewaltlegitimierenden Normen, die sich sowohl für Jugendgewalt im Allgemeinen als auch für die Erklärung diesbezüglicher ethnischer Unterschiede als bedeutsam herausgestellt haben. Im Zentrum des Projekts stand die Konzeption und Durchführung einer großen, längsschnittlichen Befragung an Sekundarschulen in fünf benachbarten Städten des Ruhrgebiets: Gelsenkirchen, Gladbeck, Herten, Marl und Recklinghausen. In der ersten Welle im Jahr 2013 nahmen 39 der 45 Haupt-, Real- und Gesamtschulen im Erhebungsgebiet an der Befragung teil und es konnten 2635 Schüler*innen in der siebten Jahrgangsstufe befragt werden. Auch in den jährlichen Folgeerhebungen wurden hohe Ausschöpfungsquoten erreicht (nahezu 90% auf Schulebene und zwischen 79 und 88% auf individueller Ebene). In der dritten und vierten Welle konnten dabei auch Gymnasien mit einbezogen werden. Dies geschah in den drei Städten mit der bis dahin höchsten Ausschöpfungsquote (Gelsenkirchen, Herten und Marl). Durch die Hinzunahme von Gymnasien und die hohen Ausschöpfungsquoten erlauben die Daten in der Gesamtschau nahezu repräsentative Aussagen über einen Schuljahrgang in diesem urbanen Kontext. Die durchgeführten Analysen bestätigen zentrale Hypothesen neuerer integrativer Handlungstheorien und ermöglichen differenziertere Erklärungen von Jugendgewalt und -delinquenz. In Einklang mit der Situational Action Theory von Wikström und dem Modell der Frame-Selektion von Esser und Kroneberg ergaben sich Hinweise darauf, dass es nur unter bestimmten situativen Bedingungen zu einer Abwägung von Anreizen kommt, während ein Großteil insbesondere gesetzeskonformen Handelns unhinterfragt auf Basis verinnerlichter Normen und situativer Hinweisreize erfolgt. Dafür sprechen sowohl Analysen zum Zusammenspiel von Provokationsstärke, persönlicher Akzeptanz von Gewalt und dem Klima in der Schulklasse auf Basis zufällig zugewiesener Szenarien, als auch längsschnittliche Analysen von Schulgewalt und allgemeiner Delinquenzbelastung, die statistisch für zeitkonstante unbeobachtete Heterogenität kontrollieren. Während für die Hypothese einer bedingten Relevanz von Abschreckung bislang nur Tests auf Basis von Querschnittsdaten vorlagen, ermöglicht die Kombination von Paneldesign und hoher Fallzahl hierbei erstmalig belastbare Analysen des Zusammenspiels handlungstheoretischer Determinanten im Zeitverlauf. Netzwerkanalysen zeigen, dass in Schulkontexten, in denen Gewalthandlungen eher mit Beliebtheit einhergeht, Jugendliche, die gewaltlegitimierenden Normen zustimmen, eher in Gewalthandlungen übersetzen – nicht jedoch in Kontexten, in denen kein Statuszugewinn zu erwarten ist. Zudem konnte die Bedeutung der ethnischen Herkunft für physische Gewaltbeziehungen, Freundschaften und Antipathie-Beziehungen im Schuljahrgang herausgearbeitet werden. Netzwerkanalysen zeigen, dass physische Gewalt relativ selten zwischen Schüler*innen unterschiedlicher ethnischer Herkunft auftritt, und zwar gerade in Schulen mit ethnisch stärker getrennten Freundschaftsnetzwerken. Dies ließ sich größtenteils dadurch erklären, dass Schüler*innen, die befreundet sind oder gemeinsame Freunde haben, mehr Freizeit miteinander verbringen. Das Ergebnis der Studie belegt das sog. Integrationsparadox: Ein Mehr an Auseinandersetzungen ist häufig Folge einer voranschreitenden Integration. Schulen, in denen physische Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen unterschiedlicher ethnischer Herkunft besonders selten sind, sind eher durch ethnisch getrennte Freundesgruppen und Antipathie zwischen Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft gekennzeichnet. Dieses Ergebnis wurde auch öffentlich wahrgenommen (siehe u.a. "Die Zeit" Nr. 41/2019). Wie bereits diese ausgewählten Ergebnisse zeigen, hat das Projekt „Freundschaft und Gewalt im Jugendalter“ eine einzigartige Datenbasis geschaffen, durch die sich weitere Fragen zu handlungstheoretischen Mechanismen, ethnischen Unterschieden und sozialen Netzwerken beantworten lassen werden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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2016: Wie wirken „Subkulturen der Gewalt“? Das Zusammenspiel von Internalisierung und Verbreitung gewaltlegitimierender Normen in der Erklärung von Jugendgewalt. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 68: 457-485
Beier, Harald
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2018: Revisiting the role of self-control in Situational Action Theory. European Journal of Criminology 15(1): 56-76
Kroneberg, Clemens und Sonja Schulz
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2014: Between Mechanism Talk and Mechanism Cult: New Emphases in Explanatory Sociology and Empirical Research. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 66(1 Suppl.): 91-115
Kalter, Frank und Clemens Kroneberg
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2014: Frames, Scripts, and Variable Rationality: An Integrative Theory of Action. In: Gianluca Manzo (Hrsg.). Analytical Sociology: Actions and Networks. Chichester: Wiley. 95-123
Kroneberg, Clemens
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2014: Individual Differences in the Deterrence Process: Which Individuals Learn (Most) from Their Offending Experiences?. Journal of Quantitative Criminology 30(2): 215-236
Schulz, Sonja
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2014: Peer effects in offending behaviour across contexts: Disentangling selection, opportunity and learning processes. European Journal of Criminology 11(1): 73-90
Beier, Harald
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2015: A Free Audio-CASI Module for LimeSurvey. Survey Methods: Insights from the Field
Beier, Harald und Sonja Schulz
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2016: Collecting Network Panel Data in Schools: Practical Guidance Based on the Experiences of Three German Panel Studies. MZES Working Paper 166. Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung
Leszczensky, Lars, Beier, Harald, Kruse, Hanno und Sebastian Pink
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2016: Das Projekt „Freundschaft und Gewalt im Jugendalter“. In: Neubacher, Frank und Nicole Bögelein (Hrsg.). Krise-Kriminalität-Kriminologie. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg. 353-364
Kroneberg, Clemens, André Ernst und Maria Gerth
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2016: Don’t Blow Your Cool: Provocation, Violent Coping, and the Conditioning Effects of Self-Control. Journal of Quantitative Criminology 32(4): 561-587
Schulz, Sonja
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2018: Die situative Verursachung kriminellen Handelns- Zum Anwendungspotenzial des Modells der Frame-Selektion in der Kriminologie. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 101(3-4): 251-271.
Schulz, Sonja und Clemens Kroneberg
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2018: Reconsidering the Immigration-Crime Nexus in Europe: Ethnic Differences in Juvenile Delinquency. In: Kalter, Frank et al. (Hrsg.). Growing up in Diverse Societies: The Integration of Children of Immigrants in England, Germany, the Netherlands and Sweden. Proceedings of the British Academy. Oxford: Oxford University Press. 335-368
Kroneberg, Clemens
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2020: Does truancy make the delinquent? A situational and longitudinal analysis of the truancy–delinquency relationship. European Journal of Criminology
Gerth, Maria
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2020: Violence, Street Code Internalization and the Moderating Effect of the Status-Violence Norm in German Schools. Kriminologie – Das Online-Journal | Criminology – The Online Journal 2: 39–63
Ernst, André und Sven Lenkewitz
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2020: Who is fighting with whom? How ethnic origin shapes friendship, dislike, and physical violence relations in German secondary schools. Social Network 60: 34–47
Wittek, Mark, Clemens Kroneberg und Kathrin Lämmermann