"Orbis Britannicus versus Orbis Europaeus?" Britische und irische Literatur zwischen nationaler und europäischer Identität
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das anstehende „Brexit“-Referendum zeigt es erneut: Der atlantische Archipel begreift sich traditionell als von Europa geographisch aber auch kulturell separate Einheit. Daher überrascht es wenig, dass er in seinen Nationalliteraturen auch häufig so dargestellt wird. Solche Konzeptualisierungen von Europa in der englischen Literatur wurden in diesem Projekt im Hinblick auf ihre Funktionen, ihre gesellschaftliche Tragweite und ihr Verhältnis zur eigenen „imagined community“ untersucht. Mit zwei historischen Schwerpunkten in der frühen Neuzeit einerseits und der Gegenwart andererseits wurde beschrieben, wie Europa als Anderes, aber auch als Aspekt des Selbst konstruiert, kontextualisiert und instrumentalisiert wurde und wird. Europa, so konnte gezeigt werden, wird dabei insbesondere in krisenhaften Situationen beschworen, und es konfrontiert die Literaturwissenschaft auf besondere Weise mit der Frage, inwiefern sie ihr Erkenntnisobjekt selbst schafft: Wo ‚Europa‘ nicht beim Namen genannt, aber dennoch thematisiert wird, wie kann man es da überhaupt erkennen und in seinen Funktionen beschreiben? So ist ein wesentlicher Beitrag des Projekts darin zu sehen, dass ein begrifflich-methodisches Instrumentarium entwickelt wurde, das eine präzisere Beschreibung literarischer Europakonstruktionen mithilfe der Konzepte des Chronotopos (Bachtin), der Dialogizität bzw. Dialogik (Bachtin, Morin), der Sekundarität (Brague) und der Meisterzählung (Lyotard) ermöglicht. Europa, so lässt sich zusammenfassen, ist zugleich Produkt und Produzent von Erzählungen über sich selbst, und in den untersuchten Texten lässt sich beobachten, wie Europäizität in Konkurrenz tritt mit anderen (größeren und kleineren) Kollektiven wie z.B. der Christenheit (in der frühen Neuzeit entscheidend konfessionell kodiert bzw. differenziert), der Nation, der Ethnie oder dem Geschlecht. Europaideen, so kann gezeigt werden, entstehen aus der Abgrenzung von solchen Kollektiven ebenso sehr wie aus der Abgrenzung von einem nichteuropäischen Anderen. Auf methodischer Ebene lässt sich festhalten, dass das begriffliche Instrumentarium der komparatistischen Imagologie und der postkolonialen Theorie eine weniger zentrale Rolle gespielt haben als bei der Antragsstellung erwartet wurde. Wo Konzepte wie „Stereotyp“, „Auto-Image“, „Provinzialisierung“ oder „Mimikry“ sich als zielführend erwiesen, konnten sie unproblematisch in die Arbeit integriert werden; wo sich Ansätze aus anderen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft oder der Soziologie anboten, wurden sie kritisch reflektiert und integriert. Dass die Begrifflichkeiten des sogenannten ‚spatial turn‘ im Hinblick auf die frühneuzeitliche Darstellung maritimer Räume in dramatischen Texten ein vergleichsweise geringes heuristisches Potential aufweisen, ist überraschend und darf, auch wenn es im betr. Dissertationsprojekt dadurch zu einer Neuausrichtung kam, als Ergebnis gewertet werden. Mit dem jüngst bei Routledge erschienenen Sammelband Early Modern Constructions of Europe: Literature, Culture, History wird die frühneuzeitliche Konstruktion Europas als Gegenstand (literar-)historiographischer Reflexion einem internationalen Publikum angeboten.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Diasporic Constructions of Home and Belonging (Berlin, Boston: de Gruyter, 2015)
Florian Kläger, Klaus Stierstorfer
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„Der Fortunatus-Stoff im Wirtschafts- und Moraldiskurs des frühneuzeitlichen Europa“ in Tomislav Zelić, Zaneta Sambunjak und Anita Pavić Pintarić (Hgg.), Europa? Zur Kulturgeschichte einer Idee (Würzburg: Königshausen und Neumann, 2015): 57–69
Wellmann, Thomas:
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„Insularity, Invasion and Identity: ‘European’ National Genesis in Sixteenth- and Seventeenth-century English Historiography,“ Journal for the Study of British Cultures 22.2 "European Britain" (2015): S. 159-176
Kläger, Florian
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Early Modern Constructions of Europe. Literature, Culture, History (London: Routledge, 2016)
Gerd Bayer, Florian Kläger (eds.)
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Europa gibt es doch … Krisendiskurse im Blick der Literatur (Paderborn: Fink, 2016)
Florian Kläger, Martina Wagner-Egelhaaf (eds.)
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“‘The Ship of Europe’: The Iconography of John Dee’s General and Rare Memorials” in Florian Kläger, Gerd Bayer (Hgg.), Early Modern Constructions of Europe: Literature, Culture, History. Routledge Studies in Renaissance Literature and Culture 28 (New York et al.: Routledge, 2016): 181-193
Richter, Eliza
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„Brückenkopf Britannien. Zur Europa-Sehnsucht anglophiler Modernisten“ in Florian Kläger, Martina Wagner-Egelhaaf (Hgg.), Europa gibt es doch… Krisendiskurse im Blick der Literatur (Paderborn: Fink, 2016): 103–114
Stierstorfer, Klaus
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„Die Grenzen der Zivilisation: Räumliche und historische Verortungen englischer und europäischer Identität in der frühen Neuzeit“ in ders., Martina Wagner-Egelhaaf (Hgg.), Europa gibt es doch… Krisendiskurse im Blick der Literatur (Paderborn: Fink, 2016): 79–102
Kläger, Florian