Die Passionserzählungen der Evangelien und ihr historischer Ursprung - Ritualisierte Erinnerung und historische Rückfrage
Final Report Abstract
Die vier kanonischen Evangelien des Neuen Testaments (zwischen 70 und 90 n. Chr. entstanden) gipfeln jeweils in einer Erzählung von der Passion Jesu in Jerusalem. Sie beginnt mit dem Einzug Jesu in der Stadt und seinem Auftritt im Tempel, erzählt von seinem letzten Zusammensein mit seinen Anhängern, seiner Verhaftung und seinem Prozess und endet mit seiner Hinrichtung am Kreuz. Sie endet mit einem Epilog, der Episode von der Verkündigung des Auferweckten in einer aufgefundenen leeren Grabkammer, die den axiomatischen Einsatzpunkt der Erzählung benennt, von dem her sie theologisch konstruiert ist: die Rehabilitation des „Gekreuzigten“ (Mk 16,6) durch Gott. Diese vier Passionserzählungen (= PE) sind zunächst Teil sehr unterschiedlicher literarischer Werke, lassen sich aber auf vorkanonische Erzählzusammenhänge zurückführen, die trotz ihrer Varianten eine erstaunliche Konstanz aufweisen. In ihnen äußert sich das „kommunikative Gedächtnis“ (Jan Assmann) der ersten Jesus-Anhänger, das sich im Kontext der jährlichen Pesach-Feier der Jerusalemer Gemeinde formte. Hier hatte der Urtyp der PE seinen „Sitz im Leben“ und verzweigte sich dann in unterschiedliche Erzählzusammenhänge (vormarkinische, vorlukanische, vorjohanneische PE), insofern die Jesus-Anhänger ihre jüdische Tradition des Pesach-Feierns auf ihrer Mission über Palästina hinaus mitnahmen und mit ihrer Jesus-Memoria füllten. Der alte Erzählzusammenhang darf nicht als „Bericht“ verstanden werden, sondern ist ein quasi-liturgischer Erinnerungstext – gleichsam die Gründungsurkunde der jüdischen Jesus-Anhängerschaft, die der Stärkung ihrer Glaubensidentität diente. Der Jerusalemer Urahn der PE ist schon bald nach Jesu Tod entstanden, möglicherweise – darauf könnte die eröffnende Episode von der sog. „Tempelreinigung“ hindeuten – im Stephanus-Kreis. Die Erzählung als ganze wurde auf dem Boden der Schrift (insbesondere des Psalters) generiert, wobei ihr Grundgerüst (Tempelszene – nächtliches Vorverhör durch die Sanhedristen, Prozess vor den Römern samt anschließender Hinrichtung am Vortag des Festes) auf historische Erinnerung zurückgehen dürfte; es lässt sich mittels rechtshistorischer Informationen von Josephus her verifizieren. Benennt der Epilog den axiomatischen Ausgangspunkt der Erzählung in theologischer Hinsicht, so der titulus crucis („Jesus, der Nazarener – König der Juden“) in historischer. Von hieraus konstruiert die Erzählung die königliche Messianität des Gekreuzigten im Licht der Schrift, „entpolitisiert“ damit aber auch den historischen Verurteilungsgrund (Jesus, ein angeblicher Messiasprätendent, der sowohl für die Römer als auch für die jüdischen Wächter des Tempelstaats eine Gefährdung darstellte), um zugleich im Bekenntnis Jesu vor dem Hohen Rat das eigene Bekenntnis zu ihm als dem von Gott zum „Messias“ inthronisierten Jesus grundzulegen. Die historische Analyse führt zu der Annahme, dass Jesus, Herold der Königsherrschaft Gottes, von den Sanhedristen als falscher Prophet angeklagt wurde, der sich der „Vermessenheit“ gegen Gott schuldig machte und deshalb nach der Tora den Tod verdiente (Dtn 13,2-6; 17,12; 18,20; Num 15,30f.). Die vorgelegten literarischen und historischen Analysen sind theologisch in mehrfacher Hinsicht relevant. Genannt sei die Einsicht in die Bedeutung der Tora für das Verständnis Jesu als strittiges „Phänomen“, damit zusammenhängend die Ambivalenz seiner (historisch-kritischen) Wahrnehmung samt dem sich darin eröffnenden nachösterlich genutzten theologischen Sinnspielraum, der auch für ein heutiges Gespräch zwischen Judentum und Christentum auf Augenhöhe wesentlich ist. Schließlich geht es auch um den Prozess Jesu als Impulsgeber für eine „politische Theologie“.
Publications
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"[…] er aber schwieg“ (Mk 14,61; vgl. 15,5). Die Frage nach der Verantwortlichkeit Jesu im Pilatus-Prozess, in: U. Busse/M. Reichardt/M. Theobald (Hg.), Erinnerung an Jesus. Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung (FS Rudolf Hoppe), Bonn 2011, 233-265
Michael Theobald
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Der Tod Jesu im Spiegel seiner letzten Worte“ vom Kreuz, in: Michael Theobald, Jesus, Kirche und das Heil der Anderen (SBA 56), Stuttgart 2013, 107-144
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Eucharist and Passover: The Two ‚Loci’ of the Liturgical commemoration of the Last Supper in Early Church, in: T. Thatcher/C. Williams (Hg.), Engaging with C.H. Dodd on the Gospel of John. Sixty Years of Tradition and Interpretation, Cambridge 2013, 231-254
Michael Theobald
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Jesus, Sohn des Ananias, und Jesus, Sohn Josephs. Zwei jüdische Propheten vor dem römischen Tribunal – jeweils mit tödlichem Ausgang, in: Michael Theobald: Jesus, Kirche und das Heil der Anderen (SBA 56), Stuttgart 2013, 97-196
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Vom Sinai über den Berg der Verklärung zum Abendmahlssaal. Zur kontextuellen Einbindung des markinischen Becherworts (Mk 14,24), in: F. Bruckmann/R. Dausner (Hg.), im Angesicht der Anderen. Gespräche zwischen christlicher Theologie und jüdichem Denken (FS J. Wohlmuth) (Studien zu Judentum und Christentum, Bd. 25), Paderborn 2013, 463-494
Michael Theobald
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Die Passion Jesu bei Paulus und Markus, in: O. Wischmeyer/David C. Sim/I.J. Elmer (Hg.), Paul and Mark. Comparative Essays Part I: Two Authors at the Beginning of Christianity (BZNW 198), Berlin 2014, 243-282
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Gattungswandel in der johanneischen Passionserzählung: Die Verhöre Jesu durch Pilatus (Johannes 18,33-38; 19,8-12) im Licht der Acta Isidori und anderer Prozessdialoge, in: J. Verheyden u.a. (Hg.), Studies in the Gospel of John and ist Christologie (FS G. van Belle) (BEThL 265), Leuven 2014, 447-483
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„Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten?“ (Mk 14,61). Zur Bedeutung des Psalters als Matrix der neutestamentlichen Passionserzählungen, in: C. Landmesser/E.E. Popkes (Hg.), Verbindlichkeit und Pluralität. Die Schrift in der Praxis des Glaubens (Veröffentlichungen der Rudolf-Bultmann-Gesellschaft für Hermeneutische Theologie e.V.), Leipzig 2015, 69-95
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