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Die Utopie im postutopischen Zeitalter. Gesellschaftskritik und Gattungsinnovation im zeitgenössischen russischen Roman

Fachliche Zuordnung Europäische und Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften
Förderung Förderung von 2011 bis 2018
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 203731323
 
Erstellungsjahr 2018

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Gesellschaftswissenschaftliche Analysen belegen, dass das utopische Denken gegen Ende des 20. Jahrhunderts nachhaltig desavouiert war. Ausschlaggebend hierfür war die postmoderne Skepsis gegenüber den großen Erzählungen und die damit verbundene Abwendung von zukunftsorientierten Staatsentwürfen zugunsten der sich in der Erinnerungskultur manifestierenden Frage nach den vielfältigen Formen der Konstruktion von Identitäten einerseits und der Zerfall der Sowjetunion als – je nach Perspektive – realisierter (Anti-)Utopie andererseits. Daraus resultierte die Forschungsfrage des Projekts: Wie reagiert die utopische Schreibweise auf diesen Sinneswandel, wobei sich die russische Literatur als Forschungsobjekt hierfür in zweifacher Weise angeboten hat: zum einen, weil in Russland bzw. der Sowjetunion das utopische Denken eine lange Tradition hat, und zum anderen, weil eine offene Auseinandersetzung mit dieser Tradition erst seit dem Ende der 80er Jahre möglich wurde. Auf der Basis einer vergleichsweise engen und dadurch präzisen Definition der utopischen Schreibweise konnte ein plausibles und gleichzeitig überschaubares Korpus von Texten konstituiert werden, welches im Hinblick auf seine gesellschaftskritischen Tendenzen ebenso untersucht wurde wie auf sein innovatorisches Potenzial bezüglich einer Weiterentwicklung der utopischen Schreibweise. Dabei lassen sich zwei Phasen unterscheiden: Die 90er Jahre, in denen die Frage nach der Utopiefähigkeit des Menschen aufgeworfen wird, indem die anthropologische Ambivalenz, d.h. die Kreatürlichkeit des Menschen einerseits und seine Vernunftbegabung andererseits, in den Blick gerückt wird (Vladimir Makanins Laz, 1991; Viktor Pelevins Žiznʼ nasekomych, 1993 und Tatjana Tolstajas Kysʼ, 2000). - Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts eine Art der Anknüpfung an die dystopische Traditionslinie, die als Reaktion auf die zunehmend „gelenkte Demokratie“ in Russland verstanden werden kann, in der die individuellen Freiheitsrechte zunehmend beschnitten und die öffentlichen Einrichtungen immer stärker gleichgeschaltet werden (Vladimir Sorokins Denʼ opričnika, 2006 und Sacharnyj Kremlʼ, 2008 sowie Viktor Pelevins S.N.U.F.F., 2012). All diese Texte beziehen sich kritisch auf zeitgenössische Entwicklungen, angefangen von den Problemen, die mit der Transformation der Sowjetunion einhergingen, bis hin zum Krieg in der Ukraine, um nur zwei Beispiele herauszugreifen. Die utopische Schreibweise erweist sich somit einmal mehr als Seismograph für problematische zeitgenössische gesellschaftliche und politische Entwicklungen und damit auch als relevantes Medium zum Aushandeln zentraler Fragen des menschlichen Zusammenlebens unter den für die Literatur charakteristischen sprachlogischen Bedingungen der Fiktionalität. Gleichzeitig wird deutlich, dass die utopische Schreibweise trotz der in den Gesellschaftswissenschaften konstatierten Krise des utopischen Denkens weiterhin produktiv ist. Allerdings wird sie in einzelnen Texten lediglich anzitiert bzw. parodistisch auf sie Bezug genommen (Kysʼ, Denʼ opričnika, Sacharnyj Kremlʼ). Ursächlich hierfür ist die postmodernistische Poetik, die die traditionellen Gattungskonventionen häufig unterläuft und stattdessen einen Bezug zu ihnen qua Intertextualität herstellt, nicht selten in Form der Parodie. Wird die Grundstruktur der utopischen Schreibweise aber realisiert, so ist sie verbunden mit einer Sinnentleerung dieser Struktur. Je nach ihrer motivischen Füllung ergeben sich dann unterschiedliche Thematiken: die Kritik am traditionellen utopischen Denken und die Frage nach dessen angemessener Erneuerung in Laz oder die Mediensatire und die Technologiekritik in S.N.U.F.F.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2019) Автобиографический миф о Японии как утопия творчества: Неизбежность ненаписанного Андрея Битова = Avtobiografičeskij mif o Japonii kak utopija tvorčestva: Neizbežnost nenapisannogo Andreja Bitova. Russian Literature 107-108 145–159
    Meyer-Fraatz, Andrea
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1016/j.ruslit.2019.10.007)
  • „Vergebliche Metamorphosen. Gesellschaftskritik in Viktor Pelevins Roman Žizn’ nasekomych (Das Leben der Insekten) und ihre gattungsgeschichtliche Tradition. In: Tierstudien 04/2013 (Themenheft Metamorphosen), 50-60
    Ohme, Andreas
  • Utopie in der Krise? Zeitenwenden und ihre Verarbeitung in slavischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts. Wiesbaden 2016
    Meyer-Fraatz, Andrea und Sazontchik, Olga (Hgg.)
  • „Illjuzija nastojaščego, ili Utopija kak universal’naja konstanta v Ocennej Žabe Dmitrija Gorčeva“. In: Meyer-Fraatz, Andrea und Sazontchik, Olga (Hgg.): Utopie in der Krise? Zeitenwenden und ihre Verarbeitung in slavischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts. Wiesbaden 2016, 135-155
    Sazontchik, Olga
  • „Konec utopii? K rasskazu Andreja Bitova Fotografija Puškina (1799- 2099)“. In: Meyer-Fraatz, Andrea und Sazontschik, Olga (Hgg.): Utopie in der Krise? Zeitenwenden und ihre Verarbeitung in slavischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts. Wiesbaden 2016, 105-127
    Meyer-Fraatz, Andrea
  • „Wenn der Mensch zum Tier wird. Die satirische Infragestellung der Idee vom neuen Menschen in der postsowjetischen Literatur am Beispiel von V. Pelevins Žiznʼ nasekomych und T. Tolstojas Kysʼ“. In: Düring, Michael u.a. (Hgg.): Russische Satire. Strategien kritischer Auseinandersetzung in Vergangenheit und Gegenwart. Frankfurt/M. u.a. 2016, 123-147
    Ohme, Andreas
 
 

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