Visualisierungen in den Wissenschaften - eine wissenschaftstheoretische Untersuchung
Final Report Abstract
Visualisierungen wie Fotografien, Computergrafiken, instrumentell erzeugte Bilder usw. spielen eine wichtige Rolle in den Wissenschaften. Visuelle Repräsentationen finden nicht nur in vielfältigen Erscheinungsformen, sondern auch zu unterschiedlichsten Zwecken Verwendung. Oft werden sie dazu genutzt, Forschungsergebnisse zu vermitteln (Kommunikationskontext). Hier treten sie als fester Bestandteil wissenschaftlicher Publikationen, Präsentationen und Vorträge auf. Darüber hinaus sind sie auch im genuinen Forschungsumfeld zu finden (Forschungskontext), wo sie z.B. selbst den Forschungsgegenstand darstellen (z.B. Höhlenmalerei in der Archäologie) oder als Substitut des Forschungsobjekts dienen (z.B. Visualisierungen von Messdaten in der Physik). Trotz dieser weiten Verbreitung unterschiedlichster visueller Repräsentationen in der wissenschaftlichen Informationsgewinnung, -evaluation und -verbreitung stand lange Zeit eine systematische wissenschaftstheoretische Analyse des Phänomens aus. Auf dieses Missverhältnis, das sich aus der Konstatierung der Ubiquität visueller Repräsentationen in der wissenschaftlichen Praxis und ihrer Nichtbeachtung in der wissenschaftstheoretischen Diskussion ergibt, hat Laura Perini (2005) hingewiesen. Ziel des Projekts war es, diese Lücke zu schließen. In einem ersten Schritt wurde der Begriff der wissenschaftlichen Visualisierung sowohl hinsichtlich seines Anwendungsbereichs als auch im Hinblick auf seinen Bedeutungskern genauer untersucht. Es zeigte sich, dass visuelle Repräsentationen als Zeichen eines Erklärungsansatzes bedürfen, der sowohl die Kodierung als auch die Dekodierung der in ihnen enthaltenen Informationen berücksichtigt. Für die Begriffsklärung wurde Michael Newalls (2011) Vorschlag eines gemischten bildtheoretischen Ansatzes nutzbar gemacht. Wissenschaftliche Visualisierungen lassen sich am besten verstehen, wenn man einerseits die besondere Weise ihrer Dekodierung berücksichtigt, die sich in Merkmalen der Bildwahrnehmung allgemein beschreiben lässt. Hierzu zählt z.B. das von Oliver R. Scholz (2009) genannte Charakteristikum, dass induktives Lernen eine besondere Rolle für das Verstehen von Bildern spielt. Andererseits müssen im Begriff der wissenschaftlichen Visualisierung die vielfältigen Methoden der Informationskodierung – Herstellungsweisen und Verwendungspraxen – berücksichtigt werden, um als Korrektheitsstandards die Interpretation der visuellen Repräsentation leiten zu können. Es ergab sich nicht eine einheitliche Begriffsdefinition, sondern vielmehr ein mittels Spezialisierungsrelationen am Zeichenbegriff festgemachtes Begriffsnetz – ein Ergebnis, das dem Umstand der Entwicklung immer neuer bildgebender Verfahren und Praxen in den Wissenschaften Rechnung trägt. In einem zweiten Schritt wurden die Funktionen wissenschaftlicher Visualisierungen im Forschungs- und Kommunikationskontext der Wissenschaften analysiert und systematisiert. Die Differenzierung nach diesen beiden Kontexten erlaubte es, sowohl die Probleme genauer zu verorten, welche für die lange Nichtbeachtung visueller Repräsentationen in der wissenschaftstheoretischen Debatte verantwortlich waren, als auch Lösungsvorschläge zu entwickeln. Während Visualisierungen im Forschungskontext entweder selbst als Forschungsobjekt, als dessen Substitut oder als Werkzeuge des Denkens bei der Hypothesenentwicklung wichtige epistemische Funktionen übernehmen, hängt die Frage nach ihrer genauen Rolle im Kommunikationskontext entscheidend vom kommunikativen Ziel und dem Adressatenkreis ab. Dienen sie im Austausch unter Fachleuten als wichtige Belegdaten, können sie in der Kommunikation mit Laien gleichermaßen epistemische (Veranschaulichung) als auch nicht-epistemische Funktionen (Aufmerksamkeitsgenerierung) übernehmen. Mit Hilfe von Ludwik Flecks (1980) Analyse wissenschaftlicher Kommunikationsprozesse konnten relevante soziale Einflussfaktoren (Ziele, Methoden, Modi der Kommunikation) und ihre Auswirkungen auf Form und Gehalt der Mitteilung aufgezeigt werden. Schließlich wurde im Projekt auch der epistemische Status wissenschaftlicher Visualisierungen – insbesondere in Abgrenzung zu anderen Repräsentationsformen reflektiert. Das Merkmal einer weitreichenden Übersetzbarkeit des Informationsgehalts einer Repräsentationsform in eine andere stützte die These des Bestehens eines eigenständigen kognitiven Gehalts wissenschaftlicher Visualisierungen. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass visuelle Repräsentationen auf Grund ihrer Wahrnehmungsnähe einerseits die Vermittlung von Wissensformen ermöglichen, die sonst nur durch praktische Anleitung bzw. Zeigegesten vermittelt werden können. Andererseits fördern sie aus demselben Grund in besonderem Maße das wissenschaftliche Verstehen. Beide Aspekte stellen damit einen echten epistemischen Mehrwert dar, welcher durch wissenschaftliche Visualisierungen generiert werden kann.
Publications
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Das Beste aus zwei Welten? Ludwik Fleck über den sozialen Ursprung wissenschaftlicher Kreativität. In: Simultaneität – Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten, hrsg. von Hubmann, P. und Huss, T. J., Bielefeld: transcript 2013, S. 111-131
Nicola Mößner
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Photographic Evidence and the Problem of Theory-Ladenness. In: Journal for General Philosophy of Science, Vol. 44(1), 2013, S. 111-125
Nicola Mößner
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Visual Information and Scientific Understanding. In: Axiomathes, Vol. 25, 2015, S. 167-179
Nicola Mößner
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Scientific Images as Circulating Ideas – An Application of Ludwik Fleck’s Theory of Thought Styles. In: Journal for General Philosophy of Science September 2016, Volume 47, Issue 2, pp 307–329
Nicola Mößner
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Visual Data – Reasons to Be Relied On? In: Reasoning in Measurement, hrsg. von Mößner, N. und Nordmann, A., London, Routledge, Taylor & Francis Group, 2017. S. 99-110
Nicola Mößner