Die Adlon-Tapes: Zur Textgenese von 'Tristesse Royale'
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Bei dem für die Geschichte der neueren deutschen Popliteratur maßgeblichen Text "Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre" (Berlin 1999), der seit seiner Erstpublikation bis heute mehr als umstritten ist, handelt es sich nicht um ein Theaterstück, bei dem literarische Figuren, die die Klarnamen ihrer Autoren führen, ein skandalöses, kulturkritisches Gespräch führen. Tristesse Royale ist überhaupt viel weniger als literarisch-fiktionales Artefakt anzusehen, als von der Forschung bislang angenommen wurde. Der Text stellt vielmehr das redaktionell bearbeitete Protokoll eines Gesprächsereignisses dar, das an drei Tagen im April 1999 im Berliner Hotel Adlon tatsächlich stattgefunden hatte. Das zeigt die hier erstmals erfolgte Auswertung der 14 Stunden Audio-Mitschnitt, die sich von dieser nachmals berüchtigten Autoren-Zusammenkunft erhalten haben. Die in den edierten Text eingestreuten Regieanweisungen oder surrealen Szenenbeschreibungen, die von der Forschung bislang ganz überwiegend als Fiktionalitätssignale verstanden wurden, bezeugen weniger den literarischen Charakter des Textganzen, sondern dienen vielmehr dazu zu verschleiern, dass mit dem edierten Text kaum mehr als eine weitgehend wortgetreue Wiedergabe tatsächlich geführter Gespräche vorliegt. Die im Text geäußerten Meinungen sind damit nicht in erster Linie als Äußerungen literarischer Figuren zu klassifizieren, sondern werden kenntlich als Redeanteile dieser Autoren selbst – spontanmündlich geäußert in einem zum Zwecke der kollaborativen Textherstellung arrangierten szenischen Rahmen. Als Beitrag zur Schreibprozessforschung schlägt das Projekt für dieses Korpus den Begriff der Sprechszene vor (analog zum etablierten Begriff der ‚Schreibszene‘), um das hier gewählte Produktivitätsregime als ein Ensemble aus der Semantik des spontan-mündlich Gesprochenen, Technologie der Aufzeichnungsmedien und Körperlichkeit der Sprecher zu kennzeichnen. In methodischer Hinsicht hat das Projekt durch die Erschließung einer textgenetisch bedeutsamen Quelle den ersten Schritt in Richtung einer Philologie der neueren deutschen Popliteratur unternommen. Das Projekt schlägt vor, für die Beschäftigung mit Korpora wie dem hier vorliegenden künftig nicht mehr mit dem unterbestimmten Begriff der Gegenwartsliteratur zu operieren, sondern mit dem der Zeitliteratur. Erforscht wird (analog zur Begriffsbildung ‚Zeitgeschichte‘ in der Geschichtswissenschaft) hier die Literatur der Mitlebenden – mit allen methodischen Vorkehrungen und Limitationen, die sich daraus ergeben.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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„Nachdenken über Lady P. Von den Adlon-Tapes zu Tristesse Royale – Vorüberlegungen zu einer textgenetischen Teiledition“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 45 (2015), H. 179, S. 108-133
Schäfer, Jörgen/Jan Süselbeck
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„‚Der Schreibtisch im Nachtleben‘. Bohème um 2000 in Tristesse Royale?“, in: Walburga Hülk/Nicole Pöppel/Georg Stanitzek (Hrsg.): Bohème nach 1968, Berlin: Vorwerk 2015, S. 109-141
Döring, Jörg
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„Wie man Pop-Literatur ediert. Textgenese, Überlieferung und Edition von Tristesse Royale. S. 131-156, in: Textgenese und digitales Edieren: Wolfgang Koeppens "Jugend" im Kontext der Editionsphilologie, Katharina Krüger, Elisabetta Mengaldo, Eckhard Schumacher (Hg.). De Gruyter, 2016 (Beihefte zu editio, 40)
Schäfer, Jörgen
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„‚Ein Evergreen für Nicht-Angepasste‘. Zeitdiagnostik aus der Plastiktüte in Tristesse Royale“, in: Jürgen Brokoff/Ursula Geitner/Kerstin Stüssel (Hrsg.): Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht, 2016. S. 325-369
Döring, Jörg
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Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett. Text und Kommentar (Siegener Kommentierte Ausgabe). Berlin: Suhrkamp, 2017, 320 S. (Suhrkamp BasisBibliothek). 978-3518189436
Döring, Jörg/Jörgen Schäfer/Jan Süselbeck (Hrsg.)