Soziologische Wissenskulturen. Entwicklung qualitativer Sozialforschung in der deutschen und französischen Soziologie seit den 1960er Jahren
Final Report Abstract
Mit dem Begriff der „soziologischen Wissenskulturen“ und ihrer Analyse ist es dem Forschungsprojekt gelungen, in der deutschsprachigen Soziologie eine reflexive Perspektive auf das eigene Fach und dessen Erkenntnisproduktion einzuführen sowie mittlerweile auch institutionell zu verankern (Arbeitsgruppe Wissenskulturen in der Sektion Wissenssoziologie der DGS, in Gründung). Während der Begriff der Wissenskultur bis dato vornehmlich in der Geschichtswissenschaft und in der auf naturwissenschaftliche Wissensproduktion gerichteten sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung genutzt wurde, konnte sein Erkenntnispotential an der Schnittstelle von Wissenssoziologie und Wissenschaftsforschung fruchtbar gemacht werden. Die damit eingeführte Perspektive ergänzt die soziologiehistorische Forschung und die aktuelle methodologische Reflexion, indem sie Pfadentwicklungen, Evidenzannahmen und Rechtfertigungsweisen der soziologischen Erkenntnisbildung selbst zum Thema und zum Gegenstand der Analyse macht. In der durchgeführten Untersuchung konnten die zu Beginn formulierten Annahmen in mehrfacher Weise plausibilisiert, aber auch modifiziert werden. So zeigten sich sehr unterschiedliche Entwicklungsverläufe der Methoden in Deutschland und Frankreich, mit starker Konzentration auf Interviewerhebungen im deutschsprachigen Raum, und einer vergleichbar starken Ausrichtung auf ethnographisches Arbeiten in Frankreich. Auch die vermutete Konzentration der französischen Diskussion auf Fragen der Datenerhebung im Gegensatz zu einer deutschen Konzentration auf Fragen der Datenanalyse ließ sich deutlich belegen. Analytisch haben wir das auf die Gegenüberstellung des ‚Forschungsverfahrens als Lösung des Erkenntnisproblems‘ (in Deutschland) und ‘des Forschenden als Lösung des Erkenntnisproblems‘ (in Frankreich) zugespitzt. Modifiziert werden konnten die Annahmen zur Entwicklungsgeschichte dieser Wissenskulturen, in denen keineswegs die Klassiker (Durkheim, Weber) beispielgebend waren, sondern je spezifische Konstellationen der Nachkriegssoziologie. Zudem wurde deutlich, dass scheinbar gleiche Begrifflichkeiten (etwa in der Biographieforschung) nicht mit einem vergleichbaren Verständnis des Forschungsgegenstandes und seiner Erfassung einhergehen. Insoweit wurde ein erhebliches Potential des weiteren Austauschs zwischen den Soziologien in Deutschland und Frankreich sichtbar. Im Hinblick auf das Untersuchungsfeld haben sich einige neue Fragen und Problemstellungen ergeben, die so nicht von uns erwartet worden waren. So zeigte sich, dass die Vorgeschichte der soziologischen Forschung vor unserem Untersuchungszeitraum, d.h. die Nachkriegsphase bis Ende der 1950er Jahre eine wesentlich stärkere und prägende Rolle bei der Entwicklung der Wissenskulturen spielte als angenommen. Das betrifft insbesondere auch die Rolle US-amerikanischer ‚Importe‘ in dieser Zeit. Ein zweiter wichtiger Punkt betrifft die Frage nach den institutionellen Strukturierungen der Forschung und der davon ausgehenden Effekte. Schließlich deutet sich mit der neuen digitalen Infrastruktur ab Ende der 1990er Jahre eine ‚Explosion‘ und Transnationalisierung der Wissenskulturen an, deren Folgen für die Methodologie der Sozialwissenschaften im Rahmen unserer Untersuchung nicht analysiert werden konnten. Diese Punkte müssten in weiteren Untersuchungen in den Blick genommen werden.
Publications
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Wissenskulturen. Zum analytischen Nutzen eines Konzeptes der Wissenschaftsforschung für die Soziologiegeschichte. Ploder, Andrea/ Moebius, Stephan (Hrsg.): Handbuch Soziologiegeschichte. Springer VS (erscheint Frühjahr 2016).
Poferl, Angelika/ Keller, Reiner
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(2012): Crossing Cultures of Knowledge ‒ Alfred Schutz’s Heritage and the Contemporary Social Science of the Individual in France. In: Schutzian Research, N°4, S. 79‒90
Butnaru, Denisa
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(2014) Zukünfte der qualitativen Sozialforschung [31 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung/ Forum: Qualitative Social Research 15 (1), Art. 16. Wiederabdruck in: Mey, Günther/Mruck, Katja (Hrsg.): Qualitative Forschung. Analysen und Diskussionen – 10 Jahre Berliner Methodentreffen. Wiesbaden: Springer VS, S. 167-182
Keller, Reiner
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(2015): Soziologische Wissenskulturen. Zur Generierung wissenschaftlichen Wissens durch die Praxis der Auslegung. In: Hitzler, Ronald (Hrsg.): Hermeneutik als Lebenspraxis. Weinheim: Beltz-Juventa, S. 177-191
Keller, Reiner/ Poferl, Angelika
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(2015): Wie und wozu forschen? Vom Sinn soziologischer Erkenntnisproduktion. In: Brosziewski, Achim/ Maeder, Christoph/ Nentwich, Julia (Hrsg.): Vom Sinn der Soziologie. Wiesbaden: Springer VS, S. 133-147
Poferl, Angelika/ Keller, Reiner
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Soziologische Wissenskulturen zwischen individualisierter Inspiration und prozeduraler Legitimation. Zur Entwicklung qualitativer und interpretativer Sozialforschung in der deutschen und französischen Soziologie seit den 1960er Jahren. In: Historical Social Research / Historische Sozialforschung
Vol. 42, No. 4, Changing Power Relations and the Drag Effects of Habitus. Theoretical and Empirical Approaches in the Twenty-First Century (2017), pp. 301-357
Keller, Reiner/ Poferl, Angelika