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Die Transnationalisierung des Staates im Prozess der Entstehung einer gemeinsamen europäischen Migrationskontrollpolitik

Fachliche Zuordnung Politikwissenschaft
Förderung Förderung von 2011 bis 2013
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 200501298
 
Erstellungsjahr 2014

Zusammenfassung der Projektergebnisse

In dem Forschungsprojekt wurden wesentliche Momente einer Historisch-materialistischen Politikanalyse (HMPA) entwickelt. Zentrales Element bildet die Analyse von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen sowie ihre Übersetzung in die politischen und juridischen Apparate. In der konkreten Analyse der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse konnten fünf strategische Akteurskonstellationen (Hegemonieprojekte) identifiziert werden, welche die europäische Politik prägen und den gesellschaftlichen Rahmen der Auseinandersetzungen um Migrationspolitik bilden. Diese Hegemonieprojekte konnten, transformiert in die jeweilige Logik, sowohl im europäischen Recht als juridische Projekte als auch in der Europäischen Kommission und den Mitgliedsstaaten als politische Projekte in den unterschiedlichen Fallstudien in je eigenen Ausprägungen wiedergefunden werden. Wir gehen also davon aus, dass die HMPA-Analyse in vielfältigen Forschungsfeldern inspirieren kann, unabhängig davon, ob es sich um Klimapolitik handelt, um Gesundheits-, Währungs- oder Sozialpolitik. Für das Feld der kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung kann die HMPA neben ethnographischen und soziologischen Ansätzen einen eigenen Beitrag zur Analyse, Kritik und Veränderung heutiger Migrations- und Grenzregime leisten. Dieser Beitrag könnte darin bestehen, die Politiken und Apparate der Migrationskontrolle als gesellschaftlich umkämpfte Institutionen zu zeigen. Gerade weil ihre vielfältigen Formen, und letztlich ihre Existenz, das Resultat grundlegender gesellschaftlicher Widersprüche und der mit ihnen verbundenen Kämpfe sind, stellen sie keine objektive Notwendigkeit dar, sondern sind grundsätzlich veränderbar. In den Untersuchungen zum Versuch der Europäisierung der Arbeitsmigrationspolitik und der Entstehung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex zeigt sich, wie widersprüchlich der Prozess der Europäischen Integration ist: Die im Mai 2009 beschlossene Blue Card-Richtlinie zeigt eindringlich, wie schwer es für die Europäische Kommission ist, sich gegenüber den Mitgliedsstaaten durchzusetzen, selbst wenn die überwiegende Mehrheit der Mitgliedsstaaten ein Projekt für grundsätzlich richtig hält. Ein zentraler Grund hierfür war, dass wichtige neoliberal orientierte AkteurInnen nicht davon überzeugt waren, dass eine europäische Regulation der Anwerbung von Hochqualifizierten notwendig ist. Sie bevorzugten nationale Regelungen und fielen als Verbündete der Kommission aus. Die Blue Card, die zwar die Anwerbung von sogenannten Hochqualifizierten europäisch regelt, gleichzeitig den Mitgliedsstaaten aber die Möglichkeit gibt, das Kontingent auf null zu setzen, ist gleichwohl kein Misserfolg der Kommission. Mit der Richtlinie erkennen die Mitgliedsstaaten an, dass eine europäische Regulation sinnvoll ist. Dies gibt der Kommission die Möglichkeit, die Richtlinie in einigen Jahren zu ändern und weiterzuentwickeln. Ähnliches hat die Untersuchung zu der europäischen Grenzschutzagentur Frontex nachgezeichnet. Frontex ist nach neun Jahren ihres Bestehens keineswegs eine europäische Grenzpolizei geworden. Ihre Kompetenzen und ihre materiellen und personellen Möglichkeiten sind, verglichen mit den mitgliedsstaatlichen, relativ limitiert. Dennoch ist Frontex mittlerweile kaum mehr aus dem europäischen Grenzregime wegzudenken. Durch Informationsbeschaffung, Risikoanalysen und die Vernetzung der nationalen Grenzschutzbehörden konnte Frontex ihre Stellung im europäischen Grenzschutz festigen. Gleichwohl kommt es auch hier immer wieder zu Konflikten zwischen Mitgliedsstaaten und Frontex, insbesondere mit den nationalen Innenministerien. Ein Grund hierfür liegt in der Spaltung konservativer AkteurInnen, die den Grenzschutz ausbauen wollen, hinsichtlich der Frage, auf welcher Ebene dies am besten geschehen sollte, aber uneinig sind beziehungsweise den nationalen Raum präferieren. Die Fallstudien zu Dublin II und Dublin III konnten wiederum zeigen, dass die komplexe Struktur der EU, die mehrere räumliche Bezugsebenen einschließt, auch von oppositionellen AkteurInnen genutzt werden kann. Hier gelang es menschenrechtlich orientierten NGOs und Anwälten die Heterogenität der EU im Asylsystem so zu skandalisieren, dass das Dublin II-System ausgesetzt wurden musste. Auch mit der neuen Verordnung gelang es der EU nicht, das grundsätzliche Problem der Verteilung von Asylsuchenden zu regeln. Die vier Fallstudien, insbesondere diejenige zur Grenzschutzagentur, haben auch das Demokratiedefizit des europäischen Integrationsprozesses deutlich gemacht. Mit Frontex ist ein europäischer repressiver Apparat entstanden, ohne dass es eine gesellschaftliche Auseinandersetzung gegeben hätte und ohne dass das Europäische Parlament ernstzunehmende Kontrollmöglichkeiten hat. Dabei zeigt sich ein weiteres Problem: Es gibt keine entwickelte europäische Zivilgesellschaft. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen werden auf der nationalen Ebene geführt und erst danach auf den europäischen Kontext übertragen. Projekte, die auf der europäischen Ebene entstehen, werden in der Regel nicht von einer gesellschaftlichen Diskussion getragen, sondern werden von Lobbygruppen und einflussreichen Think Tanks oder von nationalen und/ oder europäischen Apparaten vorangetrieben. Zivilgesellschaftliche Auseinandersetzungen bleiben weitgehend auf die nationalen Ebenen begrenzt. Diese haben wir in der BRD, Spanien und Großbritannien untersucht. In allen drei Ländern haben sich die Kräfteverhältnisse bezüglich der Migrationspolitiken in spezifischen Auseinandersetzungen verschoben. In der Bundesrepublik Deutschland begann zu einem relativ frühen Zeitpunkt, Anfang der 1990er Jahre, ein prototypischer Konflikt um den sogenannten Asylkompromiss. Vermittelt über eine organisierte eine Moralpaniken (Hall) setzte sich eine repressive Migrationspolitik durch, die später Eingang in europäische Richtlinien und Verordnungen fand. An erster Stelle zu nennen sind die Regelungen zu Drittstaaten und ›sicheren Herkunftsländern‹, die sich heute in der ›Dublin III‹-Verordnung finden. Über diese europäischen Sekundärrechtsakte dehnten sich die Vorgaben über ganz Europa aus. Die erfolgreichen europäischen juridischen Kämpfe gegen die Dublin-Regelungen stellten in jüngster Zeit wiederum bestimmte deutsche Normen des Asylkompromisses in Frage. Diese Interventionen gingen auch von bundesdeutschen AkteurInnen aus, denn mit dem Asylkompromiss waren in der BRD starke zivilgesellschaftliche Gegenstrukturen entstanden, die nun in der EU Angriffspunkte finden konnten. Das ›Migrationsmanagement‹ geriet in der BRD erst später, mit dem Zuwanderungsgesetz der rot-grünen Bundesregierung, auf die Tagesordnung, ohne im konservativen Wohlfahrtsstaat jemals vollkommen Fuß zu fassen. In Großbritannien hingegen konnte sich die neoliberale Kräfteallianz weitgehend durchsetzen, sodass die liberalen Momente im ›Migrationsmanagement‹ ein größeres Gewicht haben. Die folgenden Kurskorrekturen der konservativen Kräfte nach Labours Wahlniederlage 2010 bleiben hingegen bruchstückhaft. Zugleich ist Großbritannien nur teilweise den europäischen Regelungen beigetreten, einzig im Asylbereich und selbst dort nicht den jüngsten Novellierungen. Die europaskeptischen Kräfte sind so stark, dass die Kräfteverhältnisse einer engeren Kooperation dauerhaft substantiell entgegenstehen. Dennoch gingen wichtige Impulse für das ›Migrationsmanagement‹ von Großbritannien aus, insbesondere das Punktesystem, welches vorher vor allem in Kanada und Australien existierte. In Spanien wiederum traf die Politik auf ein bereits vorstrukturiertes europäisiertes Politikfeld. So musste der neue Mitgliedsstaat für den Beitritt beispielsweise den schon etablierten Schengen-Acquis sowie die Visa-Regelungen übernehmen. Der PSOE war es aber während der Cayuco-Krise im Jahr 2006 trotz einer repressiven Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses in der Migrationspolitik gelungen, durch geschickte skalare Strategien das nationale Kräfteverhältnis zu umgehen und eine Koalition mit der Europäischen Kommission einzugehen. Darüber wurde das ›Migrationsmanagement‹ auch in Spanien etabliert. Mit der UnionsbürgerInnenschaft und dem Ausbau der damit verbundenen sozialen Rechte durch den EuGH konnten Elemente eines neuen europäischen Staatsprojektes (»europäisch soziale Union«) identifiziert werden. Entstanden ist kein europäischer Staat, weil dies eine sehr viel größere Kohärenz implizieren würde. Vielmehr konnten wir die Entstehung eines heterogenen, mehrere soziale Räume durchkreuzenden, Staatsapparate-Ensembles nachzeichnen. Durch die materialistische Perspektive auf den europäischen Integrationsprozess konnte nicht nur die herrschaftstheoretische Lücke in der Europaforschung bearbeitet werden, sondern auch eine dualistische Perspektive auf das Verhältnis zwischen Mitgliedsstaaten und den Institutionen der EU überwunden werden, die der Komplexität des europäischen Staatsapparate-Ensembles nicht mehr gerecht wird. Die in dem Projekt entwickelten Begriffe können so einen Ausgangspunkt für weitere Forschungen zur EU und den institutionell-apparativen Veränderungen im Integrationsprozess bilden. Die dramatischen Veränderungen im Zuge der Weltwirtschaftskrise und der darauf folgenden Eurokrise sowie der rasante Umbau des europäischen Apparate-Ensembles durch Maßnahmen der Economic Governance bieten sich hierfür geradezu an.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2009): »Entgrenzung der Europäischen Migrationskontrolle – Zur Produktion ex-territorialer Rechtsverhältnisse«, in: Soziale Welt. Sonderband Recht und Demokratie in der Weltgesellschaft, Hgg. v. Hauke Brunkhorst, 385-405
    Sonja Buckel/Jens Wissel
  • (2010): Stichwort: ›Kräfteverhältnisse‹, in: Historisch Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Hgg. von Wolfgang Fritz Haug et al., Band 7 II, Hamburg, Sp. 1941–1955
    Jens Wissel
  • (2010): »State Project Europe: The Transformation of the European Border Regime and the Production of Bare Life«, in: International Political Sociology, Vol. 4, 1/2010, 33-49
    Sonja Buckel/Jens Wissel
  • (2011): Staatsprojekt Europa. Zur Rekonfiguration politischer Herrschaft, in: Eurostudia. Transatlantische Zeitschrift für Europaforschung, 7 (1–2), 2011, 133– 152
    Jens Wissel
  • (2011): »Staatsprojekt Europa«, in: Politische Vierteljahrsschrift, Heft 4/2011, 636-662
    Sonja Buckel
  • (2011): »The Spaces of Capital: The Political Form of Capitalism and the Internationalisation of the State«, in: Antipode. A Radical Journal of Geography, Vol. 43, Issue 1, January 2011, 12-37
    Joachim Hirsch/John Kannankulam
  • (2012): Die EU in der Krise. Zwischen autoritärem Etatismus und europäischem Frühling. Münster: Westfälisches Dampfboot
    Forschungsgruppe ›Staatsprojekt Europa‹ (Hg.)
  • (2012): »Das Staatsprojekt Europa in der Krise. Die EU zwischen autoritärer Verhärtung und linken Alternativen«, in: Rosa Luxemburg Stiftung Brüssel, www.rosalux-europa.info, Oktober 2012
    Fabian Georgi/John Kannankulam
  • (2012): »La transnacionalización del Estado en el proceso de constitución de una política común europea de control de la inmigración«, in: Revista Migraciones, Núm. 32, Dezember 2012, 11-39
    Sonja Buckel/Jens Wissel
  • (2012): »›Managing Migration‹ – Eine intersektionale Kapitalismusanalyse am Beispiel der Europäischen Migrationspolitik«, in: Berliner Journal für Soziologie, 22, Heft 1/2012, 79-100
    Sonja Buckel
  • (2013): ›Welcome to Europe‹. Grenzen des Europäischen Migrationsrechts. Juridische Auseinandersetzungen um das Staatsprojekt Europa. Bielefeld: transcript
    Sonja Buckel
  • (2014): Kämpfe um Migrationspolitik. Theorie, Methoden und Analysen kritischer Europaforschung. Bielefeld: transcript
    Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa«
 
 

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