Erziehungswissenschaft in Deutschland, 1800-1945 - Semantische Tradition, Gesellschaftliche Funktion, Theoretische Leistung
Zusammenfassung der Projektergebnisse
In dem Forschungsvorhaben, über das hier berichtet wird, wurde die Erziehungswissenschaft in Deutschland von der Phase der theoretisch-programmatischen Ausdifferenzierung im ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Ende der ersten Phase der Institutionalisierung im Wissenschaftssystem, d.h. bis 1933/1945, als eigenes Wissenssystem untersucht, und zwar in mehrfacher Referenz: (1) als Diskurs über die Möglichkeit der Pädagogik als eigenständiger Wissenschaft, (2) in der Bedeutung von Pädagogik als Berufswissenschaft und Systemreflexion und (3) in der Praxis von Erziehungswissenschaft als forschender Disziplin. Die leitende Ausgangsthese war, dass sich im Prozess der Disziplinbildung Momente der Normalisierung und ein Sonderweg pädagogischer Reflexion in einer Weise zeigen, die den spezifischen Status der Erziehungswissenschaft in Deutschland sowohl sozial wie epistemologisch auf Dauer prägen. Die Ausgangsthese hat sich bestätigt. ‚Pädagogik‘ existiert in Deutschland in mehrfacher Gestalt, im Kontext der pädagogischen Berufe in anderer Form als an Universitäten, aber auch dort noch mit einer Funktionszuschreibung und in einem historisch und systemisch erklärbaren Selbstverständnis, das den übrigen philosophischen oder sozialwissenschaftlichen Disziplinen nicht entspricht. Gleichzeitig entwickelt sich, wie an Untersuchungen der Wissensproduktion über Bildung und Erziehung belegt wird, seit 1900 und bis 1933 ein eigenes Segment einer forschenden ‚Erziehungswissenschaft‘, in den Modi der Theoretisierung und Methodisierung der eigenen Forschungsarbeit internationalen Entwicklungen vergleichbar, aber in mehrfacher Hinsicht auch besonders: pädagogisch-psychologische Denkformen bestimmen den Prozess nicht allein, der Wandel vollzieht sich in unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen und philosophischen Schulen, experimentell oder geisteswissenschaftlich, aber ungeachtet solcher Differenzen erhalten sich selbst innerhalb der forschenden und universitären Erziehungswissenschaft in Netzwerken abgestützt milieuhafte – z.B. konfessionelle oder politische – Bindungen, die soziale und epistemologische Konflikte erzeugen. Pointiert gesagt: Die Disziplin erhält und akzeptiert damit eine paradoxe Funktion, „an der Grenze“ von Wissenschaft, in paradoxer Selbstbeschreibung als „praktische“ Wissenschaft, in der Außenbeobachtung als „unmögliche“ Disziplin codiert, mit dem nicht einzulösenden Programm, Forschung und Praxisnormierung zugleich zu leisten.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Bildsamkeit und Behinderung – Anspruch, Wirksamkeit und Selbstdestruktion einer Idee. In: L. Raphael/H.-E. Tenorth (Hrsg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. München 2006, S. 497–520
Heinz-Elmar Tenorth
- Fachdidaktik im historischen Kontext. In: Der Mathematische und Naturwissenschaftliche Unterricht/MNU 59 (2006), 7, S. 387–394
Heinz-Elmar Tenorth
- Begabung – eine Kontroverse zwischen Wissenschaft und Politik. In: D. Lemmermöhle/M. Hasselhorn (Hrsg.): Bildung – Lernen. Humanistische Ideale, gesellschaftliche Notwendigkeiten, wissenschaftliche Erkenntnisse. Göttingen 2007, S. 117–145
Heinz-Elmar Tenorth
- Différence de statut: différence de standards pédagogiques? Évolution des compétences et des savoirs d’ action des maîtres de gymnase (Prusse, fin du 19e – debut du 20e siècle). In: R. Hofstetter/B. Schneuwly (Éds.): Savoirs en (trans)formation. Au cœur des professions de l’enseignement et de la formation. Bruxelles 2009, p. 83–108 (Raison éducatives)
Heinz-Elmar Tenorth
- Forschungspraxis in der Konstruktion der Erziehungswissenschaft. In: Ch. Ritzi/U. Wiegmann (Hrsg.): Beobachten – Messen – Experimentieren. Beiträge zur Geschichte der empirischen Pädagogik/Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn 2010, S. 195–210
Heinz-Elmar Tenorth
- „.. die praktische Seite der Philosophischen Fakultät“. Status und Funktion universitärer Pädagogik. Berlin 2011 (Humboldt-Universität zu Berlin, Öffentliche Vorlesungen, 169)
Heinz-Elmar Tenorth