Politische Steuerung sozialer Integration und ländliche Sozialwissenschaft 1935-1960: Agrarökonomische und agrarsoziologische Forschung im Kontext der nationalsozialistischen Raumplanung und der politikberatenden Sozialforschung der frühen Bundesrepublik Deutschland
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die NS-Raumplanung verfolgte (auch) gesellschaftspolitische Ziele. Nach 1945 gab es in der deutschen Raumplanung eine hohe personelle Kontinuität. Es stellten sich darum Forschungsfragen, ob, wann und wie sich die Raumplanung den neuen politischen Verhältnissen nach 1945 akkommodieren konnte bzw. musste. Im Detail war darüber bisher zu wenig bekannt, etwa über die nähere Gründungsgeschichte des Instituts für Raumforschung in Bonn und seine Rolle im Prozess der Flüchtlingsintegration. Welche Binnenlogiken und variierenden „Denkstile“ oder „Denkkollektive“ hat es unter den Raumplanern und den zuvor in der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung zusammengefassten Wissenschaftlern gegeben? Wie entwickelten sich diese ggf. nach 1945 in Bezug auf Integrationspolitiken weiter? Ein wesentliches Ergebnis vorliegender Untersuchung ist, dass Raum- und Landesplanung zwischen 1930 und 1960 gleichzeitig sowohl von Anhängern eines agrargesellschaftlichen Integrationsmodells (verbunden vor allem mit bodengebundenen Siedlungsansätzen und einem eher agrarischen Entwurf sozialer und wirtschaftlicher Integration) als auch von Anhänger eines eher industriegesellschaftlichen Integrationsmodells getragen wurde. Beide Expertentypen bildeten jedoch keine stringent abgeschlossenen „Denkkollektive“ mit geschlossenen „Denkstilen“ (Ludwik Fleck), sondern es bestanden durchaus Konvergenzen. So gab es vor 1945 besonders innerhalb der 'raumplanenden' Agrarökonomie, der Verkehrswissenschaft und der Soziologie Ansätze, die sich mit den nun notwendigen industriellen Entwicklungen durchaus verbinden ließen, etwa die tendenzielle Entwertung kleinbäuerlicher Lebensformen. Das Gleiche gilt für das Interesse der empirischen Soziologie an den Übergängen von agrargesellschaftlichen zu industriegesellschaftlichen Welten (Bsp.: Untersuchung der Industriedörfer). Das Institut für Raumforschung (und das über das Institut generierte sozialwissenschaftliche Expertenwissen) stand ganz im Kontext einer planerischen Flankierung der industriellen Entwicklung, besonders in Nordrhein-Westfalen. Von „Gemeinschaft“ in einem christlichen, ruralgesellschaftlichen, „völkischen“ oder auch „landsmannschaftlichen“ Sinne war nun nicht mehr die Rede. Das „Soziale“ wurde schon in den 1950er Jahren zu einem wichtigen, aber grundsätzlich der Funktionalität der industriellen Wirtschaftsräume untergeordneten Aspekt. Damit bekam Raumplanung einen anderen Akzent als noch unter den Nationalsozialisten. In der NS-Zeit waren Bevölkerungen (und ihre sozialen Zuordnungen untereinander) viel unmittelbarer als (raum-)planungsrelevant angesehen worden. Raumforscher in NRW konstatierten hingegen einen geänderten sozialwissenschaftlichen Beratungsbedarf. Hatten in der alten Raum- und Landesplanung noch Akteure gewirkt, die grundsätzlich den Erhalt einer „agrargesellschaftlichen“ Perspektive anstrebten, wandte sich die bundesrepublikanische' Raum- und Landesplanung den sozialen Folgen einer industriegesellschaftlichen Erschließung der ländlichen Regionen zu. Damit verschob sich der Fokus der Planungen stärker auf wirtschaftliche Abläufe in „Wirtschaftsräumen“ – die sozialtechnologische Stoßrichtung der Raumplanung wurde schon in den 1950er Jahren reduziert. Die markt-induzierte soziale Mobilität, die nun in der Gesellschaft vor allem durch die Lebenswege der Flüchtlinge zu beobachten war, wurde hingegen innerhalb der Raum- und Landesplanung nicht mehr als eine die Gemeinschaft 'bedrohende' Entwicklung problematisiert sondern schlicht akzeptiert.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Raumentwicklung, Bevölkerung und soziale Integration: Forschung für Raumplanung und Raumordnungspolitik 1930-1960. Wiesbaden: Springer VS 2017, ca. 300 S.
Hansjörg Gutberger