Theorie internationaler Organisationen und der Weltsicherheitsrat
Final Report Abstract
Untersucht wurde, ob und inwieweit der Weltsicherheitsrat als organisationsähnliche internationale Institution Autonomie gegenüber seinen Mitgliedern gewinnen und dadurch auf das Entscheidungsverhalten der Staaten und den Inhalt der dort getroffenen Entscheidungen systematisch Einfluss nehmen kann. Analysiert wurde zum einen, ob frühere Entscheidungen des Weltsicherheitsrates in der Form von Präzedenzfällen und Entscheidungsdoktrinen Einfluss auf nachfolgende Entscheidungen gewinnen. Dazu wurde zunächst eine theoretische Erklärung entwickelt, die vermuten lässt, dass in Koordinationssituationen selbst mächtige Staaten, insbesondere die fünf Vetomächte des Sicherheitsrates, ihr Verhalten im Entscheidungsprozess auch dann freiwillig an ähnlichen vorausgehenden Entscheidungen des Rates ausrichten, wenn dies die Durchsetzung ihrer Präferenzen nicht unmittelbar fördert oder ihr sogar entgegensteht. Eine im Rahmen des Projektes für den Bereich Terrorismus aufgestellte Datenbank aller insgesamt 807 aufgetretenen Entscheidungsfälle, in denen sich der Weltsicherheitsrat zwischen 1947 und Ende 2012 mit Fragen des Terrorismus und der Terrorbekämpfung (Counterterrorism) befasst hat, zeigt eine außerordentlich regelmäßige Entscheidungspraxis, die einen scharfen Übergang von der Phase der Ablehnung der Zuständigkeit des Rates für Terrorismusfragen zu einer praktisch durchgängigen Akzeptanz der Zuständigkeit mit dem Umbruchjahr 1985 erkennen lässt. Auch die Untersuchung von insgesamt fünf großen Konfliktfällen aus den Bereichen des Terrorismus (Libyen 1992 und Reaktionen auf den 11.September) und des Eingriffs in innerstaatliche Konflikte (Sudan/Darfur 2006, Libyen 2011 und Syrien) zeigt, dass die Entscheidungstätigkeit des Weltsicherheitsrates durch informelle Doktrinen geprägt ist. In allen fünf näher untersuchten Entscheidungsfällen haben die initiierenden Staaten die unterstützende Wirkung der beiden Doktrinen genutzt; und in allen Fällen akzeptierten auch die Gegner durchgreifender Maßnahmen danach das grundsätzliche Mandat des Rates, solche Maßnahmen zu treffen, obwohl dies ihre ablehnende Position schwächte. Im Zuge des Projektes sind wir auf einen zweiten Mechanismus gestoßen, der durch das vielfach abgestufte Vorgehen des Rates in Krisensituationen auslöst wird. Es entsteht eine institutionelle Logik der Eskalation, durch die auch zögernde Ratsmitglieder unter Druck geraten, weiterreichenden Zwangsmaßnahmen zuzustimmen, wenn sich die betreffende Krise durch vorausgehende moderate Anordnungen und Zwangsmaßnahmen nicht beruhigen lässt. Der Einfluss der institutionellen Logik der Eskalation lässt sich anhand der meisten untersuchten Entscheidungsfälle zeigen. Zum anderen wurde untersucht, welche Auswirkungen die Übertragung von Teilentscheidungen an Ausschüsse des Sicherheitsrates auf das Entscheidungsverhalten der beteiligten Akteure und die dort getroffenen Entscheidungen hat. Auf der Grundlage vorhandener Theoriebausteine wurde ein kausaler Mechanismus entwickelt, der auf der Wirkung institutioneller Opportunitätsstrukturen beruht, die durch funktionale Differenzierung des Entscheidungsprozesses, insbesondere durch die Trennung der beiden Teilfunktionen der Regelsetzung und der anschließenden Fallentscheidung, entsteht. Die empirischen Befunde bestätigen über viele Fälle hinweg und unabhängig von den konkreten Entscheidungsinhalten, dass Ausschüsse zur regelbasierten Entscheidungspraxis tendieren. Dies gilt für die Listung mit Sanktionen belegter Personen und Einrichtungen im Rahmen des Al-Qaida und den Taliban Sanktionsregimes ebenso wie für die Entscheidungspraxis des Irak-Sanktionsausschusses, die sich im Wesentlichen auf die Genehmigung von Ausnahmen von dem über dem Irak verhängten Handelsboykott erstreckte, und für die Tätigkeit des Irak-Kompensationsausschusses, der über eine Vielzahl von Entschädigungsforderungen von Opfern des Überfalls des Irak auf Kuwait entschied. Die theoretischen und empirischen Befunde des Projektes liefern wichtige Anhaltspunkte für eine theoretische Konzeption der Autonomie internationaler Organisationen durch die Strukturierung von Entscheidungsprozessen, die die Existenz handlungsfähiger Agenten nicht voraussetzt.
Publications
- 2013: Division of Labor and Rule-based Decisionmaking Within the UN Security Council: The Al-Qaeda/Taliban Sanctions Regime. Global Governance; 19:4, 567-587
Gehring, Thomas and Thomas Dörfler
- 2015: Institutionelle Opportunitätsstrukturen im Weltsicherheitsrat. Wie Doktrinen und andere Vorentscheidungen das Handeln der Mitgliedstaaten und die kollektiven Entscheidungen über den Eingriff in innerstaatliche Konflikte beeinflussen. In Politische Vierteljahresschrift 56:4:599-625
Dorsch, Christian und Thomas Gehring
(See online at https://dx.doi.org/10.5771/0032-3470-2015-4-599) - 2015: Wie internationale Organisationen durch die Strukturierung von Entscheidungsprozessen Autonomie gewinnen. Der Weltsicherheitsrat und seine Sanktionsausschüsse als System funktionaler Ausdifferenzierung. In: Politische Vierteljahresschrift Sonderband 49, 30-56
Dörfler, Thomas und Thomas Gehring
(See online at https://doi.org/10.5771/9783845248516-59)