Philologie und Rassismus. Diskurs und Gegendiskurs in Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien im 19. Jahrhundert
Final Report Abstract
Das gelehrte Studium von lange Zeit unzugänglichen Sprachen und Schriftsystemen, Texten und Textkulturen stellte keineswegs erst dann eine Wissenschaft mit anthropologischem Anspruch dar, als der biologische Positivismus Menschen rassentheoretisch klassifizierte. Historische Erkenntnisse wie der Vergleich des Sanskrit mit den europäischen Sprachen durch William Jones oder die Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphen durch Jean-François Champollion legitimierten bis weit ins 19. Jh. einen Pionieranspruch der Philologen auf ein Wissen über den Menschen, das in immer tiefere Zeitschichten zurückgriff: Die Entdeckungen der Philologie erlaubten eine Einbettung von Kollektiven in ein Ursprungs- und Erbfolgedenken, das für die genealogische oder eben ‚rassische‘ Verortung der europäischen Völker und Nationen eine Vorrangstellung innerhalb der Weltgeschichte beanspruchte. Die anthropologischen Erkenntnisse, die die Philologie mithilfe von Indizien der Sprach- oder Schriftstrukturen, Textformen und Überlieferungsströme ableitete, sind daher keine ‚weichen‘ Faktoren in der Reflexion des Menschen, die ‚harte‘ Wissensbestände nur ergänzt hätten, sondern eine wesentliche Bedingung seiner Herausbildung im 19. Jh. Indem sie die Ursprünge menschlicher Kollektive anhand alter Textdokumente zu deuten und daraus ihre vermeintlichen historischen Potentiale zu beschreiben vermochte, lieferte die Philologie zentrale geschichtsphilosophische Argumente für zivilisatorische Hierarchien. Die Untersuchung von Sprach-, Text- und Zeichenstrukturen lieferte dabei eher als die entstehende Biologie Aufschlüsse über kognitive Potentiale, die seit Descartes, im Kontext eines tief erschütterten europäischen Universalismus, zunächst den differenten Zeichen, dann zunehmend den Sprechern bzw. Schreibern selbst zugeschrieben wurden. In der Zurückweisung des „analytischen“ französischen Universalismus im Idealismus nach den Napoleonischen Kriegen werden dabei die verschiedenen gesellschaftspolitischen Enjeux zwischen der Ablehnung eines ‚republikanischen Materialismus‘ und der progressistischen Vorstellung zunehmender Rationalisierung sichtbar. Die philologischen Projekte sind damit nicht nur, was lange bekannt ist, in die Frage der Nation eingeschrieben, sondern in die identitätspolitischen Kämpfe der nachrevolutionären europäischen Gesellschaften insgesamt. Sprachliche Formen und Produktionen werden dabei vor einer evolutionsbiologischen Anthropologie der Gehirne zu Symptomen, an denen die Leistungskraft des ‚Geistes‘ für den Fortschritt (Hegel, Biondelli, Renan, Schleicher) oder die Nähe zu einer urspünglichen Weisheit und Idealität (Schlegel, Lassen, Gobineau) sichtbar zu werden scheinen. Wie auch immer die ‚innenpolitische‘ Dimension gelagert ist – und jenseits nationalkultureller Besonderheiten der Wissensfelder, die durchaus Eigenmerkmale generieren –, zieht sich durch den Prozess der Herausbildung philologischer Wissensbereiche und Disziplinen ein Graben zwischen einer europäischen Welt der ‚Geistigkeit‘ und einer Welt der ‚reinen Natur‘, unter der die außereuropäischen, zunehmend kolonisierten Völker – und insbesondere die afrikanischen Gesellschaften – in Abstufungen gefasst wurden. Gegen die Naturalisierung des Geistes aber, und noch genauer gegen den naturalistischen Determinismus argumentieren bereits früh – aus je spezifischen Gründen – Philologen, die heute oft weniger bekannt sind: der erste Sinologe Jean-Pierre Abel-Rémusat, der Historiker und Philologe des islamischen Sizilien Michele Amari, der Kreolist Volcy Focard oder die norditalienischen Sprach- und Dialektforscher Gabriele Rosa und Carlo Cattaneo. Indem sie ‚genealogisch‘ an der Sichtbarmachung metaphysischer Voraussetzungen der eigenen Disziplin arbeiten, gewinnen sie ihre Argumente wesentlich aus den Möglichkeiten der Philologie selbst. Hieraus lassen sich Anhaltspunkte für eine zukunftsfähige Philologie gewinnen, die sich heute mit naturalistischen Diskursen über den Menschen ebenso auseinandersetzen muss wie mit der politischen Überhöhung kultureller Differenz.
Publications
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Messling, Markus