Internet-Datenbank Index Britischer Lyrikanthologien 15. - 20. Jahrhundert
Final Report Abstract
Anthologien, vor allem Lyrikanthologien, sind erst seit einigen Jahren in den Gesichtskreis der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung gerückt und werden dabei als zentraler Einfluß auf kulturelle Prozesse wie Kanonisierung, Wertevermittlung oder Ausdruck von Hoch- bzw. Populärkultur diskutiert. Allerdings scheitert eine konkrete empirische Untermauerung theoretischer Positionen oft an dem schieren Umfang des Textmaterials. Das hier durchgeführte Projekt versucht, dieses Materialproblem zu lösen und indiziert für die englische Literatur Texte aus Überblicksanthologien der britischen Lyrik in einer digitalen Datenbank, die über das Internet weltweit zur Verfügung gestellt wird (http://ibl.ub.uni-freiburg.de). Die so ermöglichte Datenerhebung soll vor allem als Grundlage für weitere Forschung dienen. Das besondere Interesse des Projekts lag in der Erfassung von Anthologien, die Lyrik als gruppenidentitätsrelevante Tradition und 'kulturelles Erbe' präsentieren und perpetuieren. Es wurden insgesamt 91 Anthologientitel (168 Einzelbände) zwischen 1557 (Tofte/'s Miscellany) und 2007 (George Courtaulds England's Best Loved Poems) erfasst. Die beliebtesten Anthologiegedichte sind Auszüge aus John Miltons Paradise Lost (191x), Edmund Spensers Fairie Queene (216) und natürlich Shakespeares Versdichtung, allerdings in der Gesamtsicht vor allem Dramenauszüge und weniger Sonette. Unter den populärsten Einzelgedichten finden sich Thomas Grays, "Elegy Written in a Country Churchyard" (49), William Collins' "Ode to Evening" (37) sowie Christopher Marlowes "The Passionate Shepherd to His Love" (33). Zieht man in Betracht, dass Romantiker gegenüber den Dichtern des 18. Jahrhunderts zeitlich im Nachteil sind, erreichen einige eine beachtliche Repräsentationshäufigkeit: William Wordsworths "Composed Upon Westminster Bridge" (25), John Keats' "Ode to a Nightingale" und "Ode to Autumn" (jeweils 25) wie auch ST, Coleridges "Rime of the Ancient Mariner" (26) finden sich seit 1850 in 70% der erfassten Anthologien. Andererseits erzielen viele Renaissancedichter, die im Vergleich die zeitlich besseren Chancen auf Repräsentation hätten, keine deutlich besseren Ergebnisse. Anthologien präsentieren einen dezidiert männlichen Kanon. Die zehn mit unterschiedlichen Einzelbelegen am häufigsten vertretenen Dichter sind Shakespeare, Milton, Pope, Wordsworth, Dryden, Burns, Cowper, Byron, Spenser und Donne. Die am häufigsten zu findenden Autorinnen sind Christina Rossetti, Elizabeth Barrett Browning, Aphra Behn und Felicia Hemans. Insgesamt wurden 33.895 Einzelbelege erfasst und 1.957 Autoren aufgenommen. Die Ergebnisse der vorläufigen Auswertung der Datenbank lassen sich in drei Hauptpunkten zusammenfassen: 1) Die Annahme es bestehe ein direkter Zusammenhangs zwischen Anthologisierung und Kanonisierung muss differenziert werden. Ein unerwartet hoher Anteil von anthologisierten Gedichten (90%) findet sich nur ein bis drei Mal in den indizierten Anthologien, wurde also nicht kanonisiert. Andererseits ist durchaus eine Korrelation zwischen Anthologisierung und Kanonisierung festzustellen, sobald sich eine signifikante Wiederholung einzelner Gedichte in mehreren Anthologien findet (10 Mal und häufiger). Dies ist bei etwa 2.5% der indizierten Gedichte der Fall. Diese Gedichte erreichen einen sehr hohen Verbreitungsgrad und damit kanonischen Status bei einer breiten Leserschicht. 2) Unter den häufig repräsentierten Autoren lassen sich deutliche Varianzen hingehend absoluter Präsenz pro Zeitabschnitt und Gedichtauswahl feststellen. Neben der zeitlich begrenzten Präsenz bestimmter Autoren im Kanon ist außerdem festzustellen, dass bei Autoren, die durchgängig repräsentiert werden, vielfach die Gedichte wechseln. Damit ändern sich auch kulturell relevante Sinnstiftungsangebote, die mit bestimmten Autoren verknüpft werden. 3) Überblicksanthologien rezipieren kanonische Autoren mit einer kulturellen Verspätung von etwa 50 Jahren. Dies lässt sich nur teilweise durch die einschränkende Wirkung des Copyrightrechtes zu erklären. Überblicksanthologien präsentieren sich in diesem - wie auch in anderem - Zusammenhang als ein weitgehend konservatives Genre.