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Genealogie, Abstammung und Vererbung im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Antragsteller Dr. Bernd Gausemeier
Fachliche Zuordnung Wissenschaftsgeschichte
Förderung Förderung von 2009 bis 2010
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 137072047
 
Erstellungsjahr 2011

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Projekt ging von der These aus, dass sich die Wissenschaft der Vererbung beim Menschen auf der Grundlage genealogischer Praktiken entwickelte. Es wurde beschrieben, dass sich in der Entstehungszeit der modernen Genetik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht nur eine verstärkte Hinwendung zu Familienforschungen über Vererbungsfragen vollzog, sondern dass die Genealogie als ein Hybridfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften betrachtet wurde, auf dem eine neue Auffassung von Mensch und Gesellschaft entstehen sollte. Der Schlüssel hierzu wurde in einer Neuorganisation genealogscher Daten gesucht, welche die Bevölkerung in ihren Abstammungszusammenhängen und erblichen Eigenschaften lesbar machen sollte. Eine Analyse der diesbezüglichen Diskussionen und realisierten Projekte verweist einerseits darauf, dass der Mangel an geeignetem Forschungsmaterial das Hauptproblem der frühen Vererbungsforschung darstellte; andererseits zeigt sie, welche entscheidende Bedeutung der eugenischen Vision einer total erfassten und kontrollierbaren Gesellschaft für die Entwicklung dieses Wissensfeldes zukam. Ein zweiter Schwerpunkt lag in der Auseinandersetzung mit der Erblichkeitsforschung des 19. Jahrhunderts. Hier wurde besonders deutlich, dass diese nicht auf unsystematische Familienstudien über seltene Anomalien beschränkt war, sondern sich vor allem in Institutionen entwickelte, die über spezifische Daten bestimmter Bevölkerungsgruppen verfügten. Von besonderer Bedeutung waren in dieser Hinsicht die psychiatrischen Anstalten, in denen erstmals systematisch und in größerem Umfang Daten zu Vererbungsfragen erhoben wurden. Zu beachten sind auch Lebensversicherungsanstalten und Sanatorien, in denen Statistiken zur Erblichkeit der Tuberkulose geführt wurden. Diese Fälle zeigen, wie sich ein quantitativer Zugang zum Problem der Erblichkeit zunächst als Aspekt der medizinischen Statistik entwickelte, wobei nicht auf ein kausales Verständnis von Vererbung abgezielt wurde, sondern auf Hinweise zur Rolle erblicher Momente in der Ätiologie bestimmter Krankheiten. Auch wenn sich diese Form von Vererbungsstatistik selten Ergebnisse lieferte, die ihre Macher zufriedenstellten, lieferte sie eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung der Humangenetik im frühen 20. Jahrhundert. Diese stellte den dritten Arbeitsschwerpunkt dar. Dabei zeigte sich, dass der mendelsche Ansatz die Vererbungsforschung am Menschen vor allem dadurch umformte, dass er die Abkehr von einer ‚genealogischen’ Betrachtungsweise und die Entwicklung einer neuen, auf größere Populationen bezogenen Methodik erforderte. Die wesentliche Neuerung lag weniger in präziseren Ergebnissen – tatsächlich gelang der eindeutige Nachweis mendelscher Erbgänge nur in seltenen Fällen – als in neuen Formen der Erfassung zusammenhängender Bevölkerungen und einer zielgerichteteren Erhebung der erforderlichen Daten. Diese Entwicklung war untrennbar mit der Institutionalisierung der Eugenik verbunden.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • From Pedigree to Database. Genealogy and Human Heredity in Germany, 1890- 1914, in: A Cultural History of Heredity III: 19th and Early 20th Centuries. Max-Plank-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Preprint 294, Berlin 2005, S. 179-191
    Bernd Gausemeier
  • Pedigree vs. Mendelism. Concepts of Heredity in Psychiatry before and after 1900, in: A Cultural History of Heredity IV: Heredity in the Century of the Gene, MPIWG Preprint 343, Berlin 2008, S. 149-162
    Bernd Gausemeier
  • Auf der „Brücke zwischen Natur- und Geschichtswissenschaft“. Ottokar Lorenz und die Neuerfindung der Genealogie um 1900, in: Florence Vienne/ Christina Brandt (Hg.), Wissensobjekt Mensch. Praktiken der Humanwissenschaften im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2009, S. 137-164
    Bernd Gausemeier
 
 

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