Vertriebenendenkmäler in der deutschen Erinnerungskultur
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Zwangsmigration der Deutschen aus dem Osten am Ende und im Gefolge des Zweiten Weltkrieges war zu keinem Zeitpunkt in der Bundesrepublik Deutschland ein gesellschaftlich tabuisiertes Thema. Auch wenn es bis heute kein zentrales Denkmal gibt, so wurden doch von 1949 bis heute zur Erinnerung an die Flucht und Vertreibung der Deutschen kontinuierlich öffentliche Gedenkorte auf lokaler Ebene geschaffen. In der Folge davon existiert heute ein umfangreiches Netz von ca. 1.500 Vertriebenendenkmälern. In dem von Dr. Stephan Scholz durchgeführten Forschungsprojekt konnte diese deutsche Topographie der Erinnerung an Flucht und Vertreibung sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht untersucht werden. Es wurden so zum einen empirisch gestützte Aussagen über die zeitliche Konjunktur und räumliche Verteilung, über das Formenrepertoire und die verwendeten Motivkomplexe sowie über die durch Inschriften indizierten Erinnerungszwecke möglich. Zum anderen wurden vier Funktionskomplexe bestimmt, auf die Vertriebenendenkmäler nach der Intention der Denkmalinitiatoren und -stifter ausgerichtet sind, und in denen sie unterschiedliche Bedeutungen einnehmen. Zum ersten dienten Vertriebenendenkmäler der Demonstration von Trauer, wobei sie im Prozess der Verlustverarbeitung eine durchaus ambivalente Rolle spielten, weil durch sie und an ihnen der Verlust der Heimat lange Zeit nur als vorläufig markiert werden sollte. Zum zweiten dienten sie der Beheimatung und Integration der Vertriebenen im Westen. Sie waren gleichermaßen Symbole der „Landnahme“ durch die Vertriebenen und Zeichen der Anerkennung durch die Einheimischen. Auch im Integrationsprozess entfalteten Vertriebenendenkmäler jedoch ein durchaus ambivalentes Potential, weil sie die Vertriebenen dauerhaft als Eigengruppe kategorisierten und ihre eigentliche Heimat im Osten verorteten. Zum dritten dienten Vertriebenendenkmäler der politischen Mobilisierung für eine Revision der deutschen Ostgrenze. Bis zur Wiedervereinigung von 1990 lag auf Seiten der Vertriebenenverbände als wichtigster Akteursgruppe beim Denkmalbau auf diesem politischen Aspekt das Hauptgewicht, der auch von Seiten der lokalen Gesellschaft in der Regel akzeptiert wurde. Vertriebenendenkmäler dienten in diesem Zusammenhang der Konstruktion eines in seinen Abgrenzungen diffus bleibenden „Deutschen Ostens“, auf den mit Berufung auf ein vermeintliches und ebenfalls oft in Denkmälern zum Ausdruck gebrachtes Heimatrecht ein dauerhaft geltender Anspruch erhoben wurde. Dieser Anspruch sollte durch die kontinuierliche öffentliche Präsenz der Denkmäler gesellschaftlich verankert und lebendig gehalten werden. Zum vierten dienten Vertriebenendenkmäler der historischen Bewusstseinsbildung und der Verankerung einer dekontextualisierten und universalisierten Erinnerung an Flucht und Vertreibung als deutscher Opfererzählung. Das Projekt leistet einen wichtigen Beitrag für die Erforschung der Geschichte der kollektiven und öffentlichen Erinnerung an die deutsche Zwangsmigration. Es hat dabei den Blick auf die Rolle der Erinnerungsmedien gelenkt, die zukünftig noch stärker und umfassender untersucht werden sollte.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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„Heute erinnert nichts mehr daran“? – Vertriebenendenkmäler und Denkmalinitiativen in Oldenburg 1951-2008, in: Oldenburger Jahrbuch 109 (2009), S. 167-199
Scholz, Stephan
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Schmerzens-Mutter-Liebe. Das Motiv der Mutter im bundesdeutschen Bildgedächtnis zu Flucht und Vertreibung, in: Fendl, Elisabeth (Hg.): Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung, Münster 2010 (= Schriftenreihe des Johannes-Künzig-Instituts. 12), S. 165-191
Scholz, Stephan
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Nur eine Stunde der Frauen? Geschlechterkonstruktionen in der Erinnerung an Flucht und Vertreibung, in: Aubele, Edeltraud / Pieri, Gabriele (Hg.): Femina Migrans. Frauen in Migrationsprozessen (18.-20. Jahrhundert), Sulzbach/Ts. 2011, S. 99-125 (vertrieben auch von den Landeszentralen für politische Bildung in Baden-Württemberg u. Hessen)
Scholz, Stephan
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„Dem Vergessen entrissen"? – Vertriebenendenkmäler als Medien konkurrierender Erinnerungskulturen in der Bundesrepublik, in: Heinemann, Monika / Maischein, Hannah / Flacke, Monika / Haslinger, Peter / Schulze Wessel, Martin (Hg.): Medien zwischen Fiction-Making und Realitätsanspruch. Konstruktionen historischer Erinnerungen, München 2011 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum. 121), S. 327-352
Scholz, Stephan
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Zwischen Viktimisierung und Heroisierung. Geschlechterkonstruktionen im deutschen Vertreibungsdiskurs, in: Franzen, K. Erik / Schulze-Wessel, Martin (Hg.): Opfernarrative. Konkurrenzen und Deutungskämpfe in Deutschland und im östlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2012 (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum. 126), S. 69-84
Scholz, Stephan